Nr. 301Ministerrat (1. Jänner 1868–21. November 1871)

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Nr. 301Ministerrat, Wien, 10. Dezember 1869

RS.Reinschrift fehlt; Abschrift der Tagesordnungspunkte I., II. und IV.

, Ministerratsprotokolle.

P. Artus; VS.Vorsitz Kaiser; anw.anwesend Taaffe, Plener, Hasner, Potocki, Giskra, Herbst, Brestel, Berger.

  • I. Eröffnung der Ah. Absichten in Bezug auf die Behandlung der Fragen der Wahlreform und der Verfassungsrevision.
  • II. Feststellung des Textes der Ah. Thronrede.
  • III. Gesetzentwurf über Arbeiterkoalition.
  • IV. Gesetz über die Erhöhung der Professorengehalte.
  • V. Personalverfügungen in Dalmatien. Sendung des FML. Freiherrn v. Rodich und des Ministerialrates Freiherrn v. Fluck.
  • 4393141 Unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.
    I. Eröffnung der Ah. Absichten in Bezug auf die Behandlung der Fragen der Wahlreform und der Verfassungsrevision

    [I.] LandtageWahlreform Se. Majestät geruhen die Sitzung mit der Bemerkung zu eröffnen, dass Se. Majestät aus dem Allerhöchstdenselben im Laufe der Ah. Reise unterbreiteten Ministerratsprotokollen zu entnehmen geruht haben, dass sich die Minister mit der Frage der Wahlreform sehr eifrig beschäftigt haben, ohne dass eine Einigung oder definitive Schlussfassung hierüber zustande gekommen wäre2. Nachdem es sich bei dieser Angelegenheit um Fragen von weit gehender Wichtigkeit handle, wollen Se. Majestät von Allerhöchstihrer Seite nur den Ministern jene Gesichtspunkte bekannt geben, an welchen als für die weitern Verhandlungen und die endgiltigen Ah. Beschlüsse maßgebend Se. Majestät festzuhalten entschlossen sind. Se. Majestät wollen, dass sich auf Seite der Minister gegenwärtig gehalten werde, dass Se. Majestät vollkommen auf dem Boden der Verfassung stehen und entschieden gewillt sind, dass auch in Bezug auf diese Frage von dem Boden der Verfassung ausgegangen werde. Die in das Aug gefasste Wahlreform ist jedenfalls eine Änderung der Verfassung, daher Se. Majestät wünschen müssen, dass, insoferne auf eine Verfassungsänderung in dieser Beziehung eingegangen werden soll, dadurch die Kluft zwischen den Parteien und den Ländern eher vermindert als erweitert werde. Se. Majestät wünschen ferner, dass, wenn mit der Wahlreform vorgegangen werden wollte, gleichzeitig mit derselben solche Schritte geschehen, welche es ermöglichen würden, dass eine Verständigung mit den bisher außerhalb der Verfassung stehenden Parteien dahin erfolge, dass, was Sr. Majestät vor allem am Herzen liege, die Verfassung durch die allseitige Akzeptierung und Beteiligung an der Durchführung derselben eine Wahrheit werde3.

    Nachdem Se. Majestät von dieser Ansicht ausgehen und pflichtmäßig nur von dieser Ansicht ausgehen können, scheine Sr. Majestät von den diesfälligen Allerhöchstdenselben mit den Ministerratsprotokollen unterbreiteten Vorschlägen jener des Justizministers sich zur Grundlage für weitere Verhandlungen am besten geeignet, weil dieses Projekt, über welches Se. Majestät sich übrigens heute näher auszusprechen Allerhöchstsich nicht veranlasst finden, da Se. Majestät Allerhöchstsich diesfalls in keiner Weise im vorhinein binden wollen, wenigstens das für sich hat, dass es den Rechten und Ansprüchen der Landtage verhältnismäßig am wenigsten zu nahe tritt4. Se. Majestät geruhen sonach die Minister aufzufordern, sich mit diesen Fragen alsbald und eingehendst zu beschäftigen, da Se. Majestät darauf dringen müssen, dass die Sache noch vor den Weihnachtsferien des Reichsrates zur Ah. Schlussfassung in der Weise vorbereitet werde, dass ein detailliertes Programm über das Vorgehen in dieser Angelegenheit in allen eventuellen Stadien und Konsequenzen derselben in Vorlage komme. Denn Se. Majestät wünschen Ah. Kenntnis darüber zu erlangen, was auf Seite der Minister beabsichtigt werde, wie es Se. Majestät auch für notwendig halten, dass Allerhöchstdenselben der Weg klar dargelegt werde, welchen die Minister als den zur Durchführung ihrer Intentionen geeigneten einzuschlagen gedächten. Se. Majestät wünschen, dass die Minister dem Reichsrate gegenüber in der Frage der Wahlreform überhaupt erst dann in irgendeiner Art auftreten, bis in der Sache eine Einigung erzielt worden sein wird, bis zu welchem Zeitpunkte sich eine streng reservierte Haltung empfehlen wird5.

    II. Feststellung des Textes der Ah. Thronrede

    [II.] ThronredeWahlreform Beratung der Thronrede6. Im Laufe der Debatte bemerkte Giskra, er hält im Hinblick auf die Ah. Ansichten, welche Se. Majestät in Bezug auf die Gleichzeitigkeit der Wahlreform und einer Verfassungsrevision auszusprechen geruht haben, eine Vermittlung zwischen diesem und dem Gedanken, dass die Wahlreform die Voraussetzung weiterer Verfassungsänderungen zu bilden hätte, für nicht möglich7. Er glaube sich daher auf die Bemerkung beschränken zu dürfen, dass er es für unmöglich halte, die Wahlreform mit einer Verfassungsänderung unter einem durchzuführen; der gegenwärtige Vertretungskörper wäre nicht dazu in der Lage, nachdem ihm die ihm für eine solche Aktion erforderliche Bedeutung nicht innewohne.

    Brestel wäre dafür, die Sätze so zu bilden, dass nach keiner Seite hin präjudiziert werde.

    Herbst glaubt hervorheben zu sollen, dass seines Erachtens zwischen Abänderungen der Verfassung und einer Verfassungsrevision ein Unterschied bestehe. Erstere könne vollständig auf dem Boden der Verfassung vor sich gehen, letztere hebe die Verfassung provisorisch auf und mache die Verhandlungen darüber innerhalb gewisser Grenzen zu Verhandlungen einer Konstituante.

    Se. Majestät geruhen zu bemerken, dass die Wahlreform auch eine Änderung der wichtigsten Grundprinzipien der Verfassung involviere, was umso mehr an Bedeutung gewinne, wenn auf die Gefühle der Länder Bedacht genommen werde. Nach der in allen Phasen der Entwicklung der verfassungsmäßigen Instruktionen im Oktoberdiplome, im Februarpatente sowie in dem gegenwärtigen Staatsgrundgesetze unverrückt festgehaltenen Idee soll der Reichsrat in den Landtagen wurzeln8. Durch eine Änderung des Wahlsystems würde sonach die wesentliche Idee der Verfassung verlassen, der Boden der Verfassung aufgegeben und dem Vagen entgegengegangen werden. Zu Alinea VII werden in der Stelle, in welcher von dem Vertrauen die Rede ist, welches Se. Majestät wie Allerhöchstihre Vorfahren in die patriotischen Gesinnungen gesetzt haben, über den Wunsch Sr. Majestät zur Beseitigung jedes Zweifels über die sprachliche Korrektheit die Worte „auf welche Ich wie Meine Vorfahren noch niemals vergebens vertraut habe“ die Worte „auf welche ich gleich Meinen Vorfahren niemals vergebens vertraut habe“, und im letzten Satze dieses Alinea zur Vermeidung der Sr. Majestät aufgefallenen öfteren Wiederholung des Wortes „Reich“ den Worten „die von aufrichtigster Liebe für alle Völker dieses Reiches“ die Worte „die von aufrichtigster Liebe für alle Meine Völker“ substituiert9.

    [III. fehlt]

    IV. Gesetz über die Erhöhung der Professorengehalte

    [IV.] UnterrichtswesenEinkommen Hasners Referat über die Gehaltserhöhung der Professoren10.

    In der Sache geruhen Se. Majestät sich dahin auszusprechen, dass Resolutionen des Reichsrates für sich allein für die Regierung keineswegs maßgebend und bindend sein können11. Der Reichsrat könne allerdings viel für sich in Anspruch nehmen, eine andere Sache aber sei, ob er sich hiebei immer auch innerhalb der Grenzen seiner Befugnisse bewege. Se. Majestät können Allerhöchstsich der Besorgnis nicht verschließen, dass man auf dem eingeschlagenen Wege immer weiter kommen, bis die nötige freie Bewegung der Administration in sehr abträglicher und bedenklicher Weise eingeengt sein werde. Die Regelung der Gehalte sei eine reine Budgetsache und gehöre nur in diesem Sinne vor die Vertretungskörper, welche auf diesem Wege auch in die Lage kommen, ihren Einfluss auf derartige Administrations- und Organisationsfragen geltend zu machen. Es mag seine Vorteile und Bequemlichkeiten für die Regierung haben, wenn sie sich gewisse Organisationen vom Reichsrate bestätigen lässt, weil sie sich hiedurch weiterer Schwierigkeiten in Absicht auf die Kostenbedeckung enthoben sieht. Allein, nach allen verfassungsmäßigen Grundsätzen gehören solche Organisationen in den Wirkungskreis der Exekutive12.

    [V. fehlt]

    Ah. E.Allerhöchste Entschließung Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Wien, 8. Jänner 1870. [Franz Joseph].

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    2Die Frage war zuletzt in MR. I v. 17. 11. 1869 I und II zur Sprache gekommen. Zur Diskussion über die Wahl- bzw. Verfassungsrevision siehe MR. II v. 21. 4. 1869/II, Anm. 2. Zur angesprochenen Reise des Kaisers siehe , Suez.
    3Analyse zu dieser Stellungnahme des Kaisers bei , Parlament und Regierung, 709.
    4Herbst hatte im MR. v. 8. 11. 1869/VIII einen von ihm ausgearbeiteten Detailentwurf der Wahlreform vorgelegt, siehe dazu den Bericht an Beust vom 9. 11. 1869, , Nachlaß Taaffe, 73 f. Das genannte Protokoll und der Herbstsche Entwurf sind nicht mehr vorhanden.
    5Zu dieser Äußerung des Kaisers siehe auch , Nachlaß Taaffe, 83 ff. Fortsetzung des Gegenstandes über die Reichsratswahlreform in MR. I v. 19. 3. 1870/I.
    6Sämtliche vorangehenden Ministerratsprotokolle zur Thronrede für die Eröffnung der bevorstehenden Session sind nicht mehr vorhanden (Nr. 271, 284, 286, 289, 290, 294, 295, 299 und 300).
    7Siehe vorangehenden Tagesordnungspunkt.
    8Punkt I des Oktoberdiploms, Nr. 226/1860; § 7 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung, Februarpatent, Nr. 20/1861; § 7 des Gesetzes v. 21. 12. 1867, wodurch das vorher genannte Gesetz über die Reichsvertretung abgeändert wurde, Nr. 141/1867.
    9Die Thronrede stand noch einmal auf der Tagesordnung des Ministerrates, MR. v. IV (nicht mehr vorhanden). Sie wurde am 13. 12. 1869 zur Einleitung der V. Session der II. Legislaturperiode des Reichsrates gehalten, abgedruckt u. a. in , Parlament und Verfassung 2: 2 f.
    10Fortsetzung des MR. v. 19. 2. 1869/XII (nicht mehr vorhanden).
    11Die entsprechende Resolution war im Zuge der Debatte über das Budget pro 1869 verabschiedet worden, 9. 3. 1869 (172. Sitzung) 5166.
    12Auf Vortrag Hasners v. 26. 11. 1869 erteilte Franz Joseph mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung v. 11. 12. 1869 die Ermächtigung zur Einbringung des entsprechenden Gesetzentwurfes im Reichsrat, Kab. Kanzlei, KZ. 4325/1869. Einbringung im Reichsrat, . 14. 12. 1869 (1. Sitzung) 14, Annahme . 7. 4. 1870 (45. Sitzung) 1049. Auf Vortrag Stremayrs v. 6. 4. 1870 wurde das Gesetz mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung v. 9. 4. 1870 sanktioniert, Kab. Kanzlei, KZ. 1361/1870; publiziert als Rgbl. Nr. 45/1870.

    How to cite

    Die Ministerratsprotokolle 1848–1918 (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/mrp-static/MRP-3-0-02-0-18691210-P-0301.html)