Von Jean Paul an Emanuel. Hof, 17. November 1795.
Brieftext
Mein theuerer Freund,
Dieser Brief ist keiner, sondern nur ein Vorreiter und Anzeiger,
daß Sie in der nächsten Woche gewis
einen langen auf Ihr
schönes Brief-Triumvirat und frisches
grünendes Kleeblat erhalten
werden.
Ich habe in diesem Geschäftsbrief nichts als Geschäfte — nicht zu
machen sondern aufzutragen, Ihnen, Lieber. Erstlich bitt’ ich
Sie,
dem H. Hofrath Schaefer ausser
meinem herzlichsten Grus die Bitte
zu bringen, daß wenn ein Paquet unter der Adresse an „Theodorus“
an ihn von den Herausgebern der staatswissenschaftlichen
Litteratur
einläuft, er mir es gütig übersenden möge und daß er
über diese
Freiheit, ihm Paquete wie Mücken ins Haus zu ziehen,
nicht zürne. —
Zweitens bitt’ ich Sie, an H. Ellrodt auch einen Grus (und eine
Bitte) zu übermachen; (die nämlich, daß er H. Lübek frage, warum die
Exemplare meines neuen Buches so lange in Bayreuth verzögern als
meine Briefe an meine gute Schreib-Dreieinigkeit
draussen hier in
Hof.
Eben brachte mir die Landkutsche die Erfüllung der obigen
Bitte. Denn jedem der 3 Exemplare wolt’ ich einen langen Brief zum
Begleiter geben.
Ihr lezter an mich gefält mir am meisten. — Sie dürfen nicht aus
der Welt gehen ohne drei Bücher so auswendig gelernt zu haben
wie
ich: Arrians Epiktet — Antonins Betrachtungen —
und Kants
Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten. Ich bitte Sie,
alles was
Kant über die Moral geschrieben, zu lesen: es ist
leichter als sein Werk
über oder gegen die Metaphysik und sezet die Lektüre des
leztern nicht
voraus. Glauben Sie mir auf mein Wort, das
Geschrei über seine
Unverständlichkeit werden Sie nicht
mitschreien, wenn Sie blos in die
ewig glänzenden Sonnen
schauen, die er im Reiche der Moral auf
gehen lässet. Ihm fehlet zu einem zweiten Sokrates nur der Gift
becher und zum 2ten Christus nur das Kreuz.
Sie haben mich einigemale bisher misverstanden, in meinem
Aufsaze und noch mehr im begleitenden Briefe. Meine
Schwermuth,
an der Sie einen so tugendhaften rührenden Antheil nehmen,
be
zieht sich nicht auf Glüksgüter —
diese würden sie nur erhöhen und ich
lebte ganz sorglos von
jeher in das Leben hinein, das ich nicht sehr
achte — sie
bezieht sich auch nicht auf meine Laune: ich bin den ganzen
Tag heiter, zufrieden mit jedem Loos, mit allen Menschen,
verhärtet
gegen die Wespenstiche der Feinde und gegen
manche Schläge des
Schiksals, immer lustig durch meine
Satiren, beglükt durch Bücher,
entzükt durch die grosse Natur
aussen und durch die grössere innen, die
der Ewige in die
Brust edler Menschen legt ... Und doch erdrükt mich
oft eine unbezwingliche Schwermuth, die Sie oft in meinen Büchern
finden, nämlich die über die Eitelkeit 〈Leerheit〉 im Ganzen des
Lebens und aller unserer
Weisheit und unserer Tugend. In uns brent
ein ewiger Durst nach
einem höhern Glük, nach einer höhern Liebe,
nach einer höhern
Tugend, für den dieses Leben nicht einmal Tropfen
zu
reichen hat. Kurz ohne ein 2tes Leben könt’ ich gerade in
den Minuten
der Entzückung, worin mir
das Gespenst der Schwermuth aus 1000
Gräbern aufsteigt, nicht
das erste ertragen. Ich brauch’ ein Buch, um
hier meine Gefühle
zu sagen. — Ich liebe Sie unbeschreiblich, Lieber;
aber in der
2ten Welt weis ich erst, was das heisset, zu lieben.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_193.html)