Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 17. Juni 1796 bis 19. Juni 1796.
Brieftext
Lieber Bruder,
Du hast hoffentlich einen Brief aus Jena, und einen aus Weimar
vom Sonabend. Das späte Datum des dritten sage dir
mein freude
trunknes Leben an; mich
schnellet gleichsam ein Blütengipfel in den
andern hinein.
Ich habe in Weimar zwanzig Jahre in wenigen
Tagen verlebt — meine Menschenkentnis ist wie ein Pilz
Manshoch
in die Höhe geschossen. Ich werde dir von
Meerwundern, von ganz
unbegreiflichen, unerhörten Dingen (keinen unangenehmen)
zu
erzählen haben, aber nur dir
allein. Ich sehe keine Möglichkeit, dir
nur eine
Duodezerzählung von meiner Universalhistorie zu schenken.
Ich brauche fast so viele Tage als sonst Seiten, um dir nicht diesen
Weg, sondern diese Flur meines Lebens zu malen. Ich bin ganz
glüklich, Otto, ganz, nicht
blos über alle Erwartung, auch über alle
Beschreibung und
nichts fehlet mir mehr in der weiten Welt als Du,
aber auch
nur du. — Heute ess’ ich bei Göthe — Gestern früh war ich
mit der Ostheim zur Herzogin-Mutter nach Tiefurth geladen,
und ich
werde nächstens bei ihr essen. Die Herzogin ist Wielands,
und ihr
sanftes Tiefurth — ein Lautenzug unter den sonst
schreienden eng
lischen Anlagen — beider würdig. Was
ich mit ihr gesprochen habe,
davon mündlich!
Bei Herder hab ich 2 Abende gegessen und verlebt und war fast alle
Tage an seiner Seite. Ostheim steht fast mit allen grossen
Deutschen
im Briefwechsel und mit allen Weimarern in Verbindung und
ich
könte alles bei ihr sehen, wenn ich wolte, daß sie es
invitierte. Aber
wir beide bleiben jeden Abend ganz allein
beisammen. Sie ist ein
Weib wie keines, mit einem
almächtigen Herzen, mit einem Felsen-Ich,
eine Woldemarin, —
ihre Fehler kommen nur auf meine Zunge, nicht
auf mein Papier. — Ich lege dir ihren heutigen
(inostensibeln)
BriefIch schicke dir ihre Briefe nach der Chronologie zusammengelegt, lies sie
so. an mich bei, da sie nach Jena gieng, um die Krebs-Amputa
zion einer Freundin durch ihre Nähe zu
lindern. Er ist ein Räthsel,
das ich dir mündlich löse.
Schon am zweiten Tage warf ich hier mein dummes Vorurtheil
für grosse Autores ab als wärens andere Leute; hier weis
jeder, daß
sie wie die Erde sind, die von weitem im Himmel
als ein leuchtender
Mond dahinzieht und die, wenn man die
Ferse auf ihr hat, aus boue
de Paris besteht und einigem Grün ohne
Juwelennimbus. Ein Urtheil,
das ein Herder, Wieland, Göthe
etc. fält, wird so bestritten wie jedes
andere, das noch abgerechnet daß die 3 Thurmspizen
unserer Litteratur
einander — meiden. Kurz ich bin nicht
mehr dum. Auch werd’ ich
mich jezt vor keinem grossen Man
mehr ängstlich bücken, blos vor dem
Tugendhaftesten.
Gleichwol kam ich mit Scheu zu Göthe. Die Ostheim
und jeder malte ihn ganz kalt für alle Menschen und Sachen
auf der
Erde — Ostheim sagte, er bewundert nichts
mehr, nicht einmal sich —
jedes Wort sei Eis, zumal gegen
Fremde, die er selten vorlasse — er
habe etwas steifes
reichstädtisches Stolzes — blos Kunstsachen wärmen
noch seine Herznerven an (daher ich Knebel bat, mich
vorher durch
einen Mineralbrunnen zu petrifizieren und zu inkrustieren,
damit ich
mich ihm etwan im vortheilhaften Lichte
einer Statue zeigen könte —
(Ostheim räth mir überal Kälte
und Selbstbewustsein an). Ich gieng,
ohne Wärme, blos aus Neugierde. Sein Haus 〈Pallast〉
frappiert,
es ist das einzige in Weimar in italienischem Geschmak, mit solchen
Treppen, ein Pantheon vol Bilder und Statuen, eine Kühle
der Angst
presset die Brust — endlich trit der Gott her,
kalt, einsylbig, ohne
Akzent. Sagt Knebel z. B., die
Franzosen ziehen in Rom ein. „Hm!“
sagt der Gott. Seine Gestalt ist markig und feurig, sein
Auge ein
Licht (aber ohne eine angenehme Farbe) Aber endlich
schürete ihn
nicht blos der Champagner sondern die Gespräche
über die Kunst,
Publikum etc. sofort an, und — man war bei Göthe. Er
spricht nicht
so blühend und strömend wie Herder, aber
scharf-bestimt und ruhig.
Zulezt las er uns — d. h. spielte er unsSein Vorlesen ist nichts als ein tieferes Donnern vermischt mit
dem leisenRegengelispel: es giebt nichts
ähnliches. — ein ungedruktes herliches
Gedicht vor, wodurch sein Herz durch die Eiskruste die
Flammen trieb,
so daß er dem enthusiastischen Jean Paul (mein Gesicht war es, aber
meine Zunge nicht, wie ich denn nur von weitem auf einzelne
Werke
anspielte, mehr der Unterredung und des Beleges
wegen,) die Hand
drükte. Beim Abschied that ers wieder und
hies mich wiederkommen.
Er hält seine dichterische Laufbahn
für beschlossen. Beim Himmel wir
wollen uns doch lieben.
Ostheim sagt, er giebt nie ein Zeichen der
Liebe. 1 000 000 etc. Sachen hab’ ich dir von ihm
zu sagen.
Auch frisset er entsezlich. Er ist mit dem feinsten Geschmak ge
kleidet. — —
Ich kan hier wenn ich wil an allen Tafeln essen. Ich kam noch zu
keinem Menschen ohne geladen zu sein. Als ich ankam am
Thore, wurd’
es ordentlich der Herzogin gemeldet und
am andern Tage wust es
jeder. — Ich lebe fast blos von Wein und englischem Bier.
— Die
Karaktere „Joachime, Matthieu (der besonders) und
Agnola“
werden hier für wahre gehalten und gefielen gerade am
meisten. Im
Klub strit man ob Flachsenfingen ein Abris von
Wien oder Manheim
wäre wegen des Lokalen — Wieland war des höhnischen
Dafür
haltens, Flachsenfingen liege in
Deutschland sehr zerstreuet. —
Ich schicke dir diese Zeichnungen des Heiligenscheins, den sie hier um
meinen kahlen Scheitel führen, darum ohne alle Scham nach
Hof,
erstlich damit du es weiter erzählest (denn ich werde
alles zusammen nur
dir erzählen, der du mich nie
verkant, und blos zu sehr geachtet hast,
aber, (auch aus
Ekel an der langen Geschichte,) keinem weiter in Hof,
wo
mir so oft Unrecht wiederfuhr, daß ich, wenn du nicht da wärst,
geradezu hier sizen bliebe). Ich schreibe eilig und ohne
Ordnung,
vergieb es, Bruder. Weibliche Bekantschaften
hab ich wenig gemacht,
wenn ich die Kanzelerin Koppenfels in
Rohrbach — ein Landgut,
auf das ich mit der Ostheim fuhr — ausnehme, die Jeschausen
(Hof
dame) die Fräulein Imhof (und die
Mutter) die Frau von Stein,
von Werther, 2 Fräulein von Seebach, von Beust, die
Schau
spielerin Schröder. Hier sind
alle Mädgen schön.
Ich wolt’, ich ässe nicht beim Oberkonsistorialrath Bötticher,abends bin ich bei Herder. Bertuch hat eine prächtige Tochter.
Gotter hab ich
im Schauspiel gesehen.
dessen Schreibfinger und Briefe durch das ganze gelehrte
Deutschland
langen und der alle französische und englische Journale um
sich
liegen hat, um die Auszüge für die L[itteratur]Zeitung daraus
zu
machen. Auch fertigt er die Übersicht über die Ernte der
Litteratur.
Wenn man diesen gelehrten Wenzel (denn
gelehrt ist er bis zum
Übermasse) in den Händen hat, so kan
man den halben Spielteller vol
Bibliotheken erbeuten. Ich
könte z. B. durch ihn wie durch die
Ostheim ganze
Kästen Bücher aus der Gött[inger]
Bibliothek be
kommen. Er schliesset einen Brief von
mir an Wieland bei, der ein
Kompliment an mich durch seinen Sekretair gestern im Lear ab
geben lies. — Bötticher drängt sich
mit Kletten-Häkgen an jeden
Fremden aus Eitelkeit. — Meine
gute Ostheim hat 6 Bout. Wein und
englisches Bier für mich zum Frühstük zu Oertel geschikt — ach, du
weist ja kein Wort, daß ich bei diesem logiere, prächtiger
als in
meinem Leben. Am Dienstag zog ich in sein von Bäumen
bewachtes
und dem götlichen Parke nahes Haus (er lebt
nicht bei seiner Mutter
und Schwester). 2 Zimmer, besser meubliert als eines im
Mode
journal, füllet mein Ich an und
seines stösset an sie. Sogar fertige
Couverts aus dem
Industrie Comptoir — 100 zu 10 gr. — wovon
hier eines zur Probe umgeschlossen ist, liegen vor mir. In
jedem
Zimmer ein Licht — einen kehrenden, wichsenden,
klopfenden Be
dienten (an der Stelle
meines frere servant) — alles, alles, sogar der
Nachtstuhl am Bette, bis auf die kleinste
Aufmerksamkeit ist er
schöpft und ich
und er leben wie Brüder, er lacht sich über mich und ich
[mich] über ihn todt. — Gestern mittags
as ich bei seiner Mutter und
Schwester, die den 2 Ohren 2 Himmel giebt, den des Spiels
und des
Gesangs; vorgestern war ich nachmittags bei ihnen zum
erstenmal,
im bunten Dunstkreise fast lauter schöner
Mädgen. — Sogar in
Paris sol nicht so viel Freiheit von gêne sein als hier: du führst
niemand, du küssest keine Hand (du müstest denn dabei nicht
aufhören
wollen) du machst blos eine stumme Verbeugung,
du sagst vor und
nach dem Essen nichts. Das ist der
Ton des Adels, der des Bürgers sol
wie meine Halsbinden oft
gesteift und gestärkt sein. — Apropos
Mazdorf hat mich den
4ten Jun. zu Gevatter gebeten: ich führe also
an jeder Hand eine Paulline.
Worüber man hier klagt, ist geschminkter Egoismus und unge
schminkter Unglaube — darum thut ihnen
eine Seele, die beides nicht
hat, so wol wie ein warmer
Tag.
Binde Fantaisie und Eremitage in
Einen Park zusammen: du
hast keine Vorstellung von dem majestätischen einfachen
hiesigen. Er
ist ein Händelsches Alexanders〈Ariadne〉fest,
und Tiefurth ein
Adagio. —
Oertel in Leipzig kömt nach Hof, besonders um einen Freund mehr
zu gewinnen, dich. O seine Bücher und seine Schiksale sind
die Insignien
und Meritorden der edelsten festesten Seele!
—
Aus unserm Begegnen in Schleiz wird wol nichts, weil ich dir
unmöglich wegen der verdamten langen Post auf so
lange Zeit vor
ausschreiben kan — weil
ich jezt 2 Tage nach Jena reise und zurükkehre
und nachher wieder mit dem Überrok durchreise, ohne zu
wissen, wie
lange ich mich da verweile.
Der Teufel sizt in mir — ich kan gar nicht weg — ich zähle keine
Tage mehr, ich lebe auf dem fixen unbeweglichen Punkt 〈Pol〉
der be
weglichen Kugel — es wird mir
bange, wenn ich ans beschliessen
denke. Ach ich bin so
glüklich, daß nur du verdienen kontest, es so zu
sein.
Meine Grüsse an alle.
Es ist nicht schön, daß du mir nicht geschrieben hast.
Künftig
werd ich mich nur zu einem epistolarischen
Tauschhandel verstehen.
Ich denke denn doch daß ich, wenn der lange Tag und der
Frühling
vorüber ist, auch meinen schönsten beschliessen
werde und kurz hinter
dem 1ten
Sommertag nach Hof kommen werde.
Richter
Ach ich kan mich schon gegenwärtig nach meiner jezigen
Gegen
wart
innigst sehnen.
N. S. Ich schreib alles mit einer in den Luststrudeln schwankenden
eiligen Hand — und die Vossische Luise, Montaigne von
Bode,
Oertel, Haman, das attische Museum liegen vor mir.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_340.html)