Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 22. Oktober 96.

Zum TEI/XML DokumentZur originalen Webseite

Brieftext

gestrichen: N. B. Lies gleich N. 2.
Hof. d. 22 Okt. 96.

Meine Bayreuther Reise schlos bisher meinen Mund.

Göthens Karakter ist fürchterlich: das Genie ohne Tugend mus da
hin kommen. Ich antworte nie einem Menschen, der meinen Karakter
nicht antastet; wiewohl G. nur satirisches Kurzgewehr hat und ich
Langgewehr. In der Exegese des Hökers [!] irrest du. Erstlich war kein
Plural ohne Abbrechung der ganzen Spize möglich. Zweitens mus er
mehr als Einen mündlichen Parentator von mir kennen, z. B. er war bei Wielands Parentazion im Klub dabei.
den
schriftlichen in der L[itteratur] Zeitung ungerechnet, der buklicht sein
sol. Drittens bin ich, meint er, der Höcker auf den Schultern des
Trägers. Wenn du kanst, so bitt’ ich dich sehr auf 8 Tage um den Al
manach. Fürchterlich weh that es meinem Herzen, daß G. ein so nahes
wie das des guten Reichards durchlöchern konte. —

Ich danke dir und deiner Schwester für das Medaillon.

Du hast deinen Prozes gegen die Krüdner — verloren mit allen
Kosten. Ich blätterte 2 Abende in ihrem Herzen. Den ersten warfst du
noch immer Schneeballen in mein Altarfeuer. Den 2ten sah ich die
idealische Seele — troz dem Selbstlobe, das kein Egoismus ist, weil sie
allen Menschen hilft und nachfühlt und weil sie im Feuer für jedes Edle
ihr Ich vergisset, und troz den Verderbnissen ihrer weiblichen Unschuld
oder vielmehr gewisser Grundsäze über die Liebe, die sich im Beispiel
des Weltlebens besudeln — hel und rein und hoch auflodern, in der
Selbsterniedrigung, unter andere moralischere Menschen, in den ängst
lichen theologischen Fragen was hier oder da recht sei, in den vielen
Briefen an andere, die alle denselben Ton anschlugen wie ihre Reden,
in ihren demüthigen Konfessionen und Thränen — — Lasse mich nichts
mehr sagen, sie hat meine Seele erobert, ich sehe ihre Sonnen- und
Sommerflecken des Weltlebens, ihre übertriebne Selbstachtung, ihre
weiblichen Niederlagen; — aber ich sehe auch den fliegenden glühenden
Geist. etc. etc. etc.


Du kenst sie nicht: thu mir den Gefallen, kein Wort über sie zu sagen.
Hätt’ ich sie nur einmal dramatisch dargestelt: du begriffest sie und
mich. Sie hat blos den Egoismus starker, weicher, philanthro-
pischer Gefühle.


N. S. Zur Probe leg ich dir einen Brief, den ein Fräulein v. Schuk
man das erste mal mir schrieb, mit bei.


N. 2.


Dem Überbringer Der Überbringer ist noch selber von der Post nicht überbracht; in jedem Fallesieht er dich bei seiner Durchreise. dieses gieb so viel von deinem Herzen als du in
der Eile herausbringen kanst. Er heisset H. von Ahlefeld, Justiz
assessor in Berlin. Er ist mein hochgeachteter Freund, ein Man von
eben so zarter als fester Moralität, vol Phantasie und ausgebildet
aber nicht ausgehölet von der Welt. Schenk’ ihm viel Liebe, er wird dir
alles bezahlen. Er handelt nach den reinsten Grundsäzen, sogar gegen
mehr als ein Geschlecht.


Jezt folgen fast lauter Bitten an dich, deren Verzeihung der
Gegenstand der


  • 1ten sein sol —

  • die 2te ist: schicke mir den dritten Theil der Erholungen oder doch die
    Kopie der Rezension über mich —

  • die 3te: schicke mir auf acht Tage den Schillerschen Almanach.

  • die 4te: fodere deinem zögernden Bruder die Kinderbonmots
    Anthologie ab, die ich, wenn du sie gelesen, jezt zum Vortheil der
    kleinen Verfasser selber nüzen kan —
  • die 5te: frage doch in der nächsten Buchhandlung nach, ob die neue
    sten Theile meiner Blumenstüke schon auf der Messe waren; denn
    ich habe noch nichts —

  • Die Aufträge die ich an dich habe sind:


  • 1) daß Otto dir nächstens schreibt und daß du ihm — und seinen
    1000 etc. Hemrädern — vergeben solst —

  • 2) daß mich die jezt nach Weimar zurükgeeilte Kalb gefragt, ob sie
    dir antworten sol, weil dein Brief zu gut und fein sei — du hast
    sie nicht beleidigt sondern recht erfreuet und überraschet —
  • 3) schicke die Briefe für Amöne an mich, Otto, Renate, nur nicht
    ins Haus, weil der Vater deren Lesung begehrt und die Tochter sie
    verweigert —

  • 4) nim mir mein jeziges lex minimi in Rüksicht der Briefe nicht übel:
    meine Arbeiten halten dich künftig, und fremde Briefe jezt noch
    besser, schadlos.

  • Meine Briefe sind leer, weil ich nur die Wahl zwischen Leerheit und
    ganzen Abhandlungen vor mir habe.


    N. 3.


    Deine innere Ruhe und Freude ist die Richterin über dein Annähern
    zu A[möne]. Doch handle nie nach den dir von mir anvertraueten
    Mysterien, noch vermenge deine Schlüsse daraus mit blossen eignen
    Wahrnehmungen. In einigen deiner Briefe an sie ist ein starkes Feuer,
    das ihre entschiedenen Gesinnungen für einen andern prüfen würde
    wenn es sie nicht voraussezte. Auch siehst du Liebe für weibliche
    Tugend, in der brillantierten Fassung der Schönheit, für ein so grosses
    Verdienst wie Menschenliebe an oder gar für den Fokus der leztern;
    aber ich kan darin nichts als eine eben so nothwendige, unwilkürliche als
    erlaubte — Wonne finden: Verdienst wenig. Irre nicht über O[tto].
    Sein Betragen war höchste angespante — Tugend und gieng aus
    dieser almählig in die leichtere Wonne und Liebe über. Ich geniesse das
    Anschauen einer doppelten vermehrten Entzückung. Ich würde in deinem
    Falle nicht kälter, vielleicht gar wärmer sein; aber du vergissest doch
    meine Selenographie von den entschiedenen Flecken dieses himlischen
    Körpers. Jezt verdien’ ich den meisten Glauben: denn nie war A.s und
    meine Seele in einem nähern Umfangen; wie verklärte Auferstandene
    ruhen wir auf der lichttrunknen Wolke der Schwärmerei und sinken
    geblendet und umarmend in das Licht der Wolke hinein. [ gestrichen:
    Zum Beweise leg ich dir ein kopiertes Billet vom Montag an mich bei.]
    — Ich bin jezt überal von Liebe umschwommen und beglükt bis zur
    Bangigkeit. Schreibe doch — zwar keinen Brief an Caroline, dein
    Zartgefühl wird gegen diese Verspätung sprechen aber doch — einige
    gefällige theilnehmende Zeilen für sie in irgend einen fremden Brief.
    Lebe wohl!


    Dein
    Richter

    N. S. Wiederhole, bei jedem Zweifel, dein voriges isoliertes Neben
    blat. — Sanfte Grüsse von A. an dich! —

    Textgrundlage

    Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

    Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

    H: Berlin JP. 12 S. 8°; Nr. 2 u. 3 auf besonderen Blättern. K (nachNr. 444): Oertel Leipzig 22 Okt. J: Denkw. 1,339×. 261,15 In der] aus Über die H 17 Einen] aus einen H 19 meint er] nachtr. H 21 nahes] danach gestr. Herz K 25 Den] aus Am H 26 in] aus auf H 29 ihr Ich] aus sich H 262,5 übertriebne] nachtr. H 19 ausgehölet] aus durchlöchert H 263,3 Sie H 5 recht] nachtr. H 17 eignen] nachtr. H 18 Sie H 25 höchste] nachtr. H gieng] aus geht H 28 vielleicht gar] aus blos H 29 Selenographie] davor gestr. Mayer- [Joh. Tobias, der Mondforscher]

    261,12 ff. In Schillers Musenalmanach auf 1797 folgte auf das „Jean PaulRichter“ überschriebene, nicht unfreundliche Xenion (Nr. 41): „Hieltestdu deinen Reichtum nur halb so zu Rate, wie jener [Manso]/Seine Armut,du wärst unsrer Bewunderung wert.“ unter der Überschrift „An seinenLobredner“ das bittere: „Meinst du, er werde größer, wenn du die Schultern ihm leihest? / Er bleibt klein wie zuvor, du hast den Höcker davon.“Wir wissen heute aus dem Xenien-Manuskript, daß dies zweite Xenionauf Manso geht; aber die Zeitgenossen mußten es auch auf Jean Paul beziehen. (Vgl. Goethe-Jahrbuch 1912, S. 235.) Oertel hatte anscheinendunter dem Lobredner seinen Bruder Ludwig verstanden, bei dem JeanPaul in Weimar gewohnt hatte, und der verwachsen war (s. zu Nr. 355).In Wirklichkeit war Friedrich Jacobs gemeint, der Manso (und Jean Paul)in der Allg. Literaturzeitung lobend rezensiert hatte, aber m. W. nichtbucklig war. 21f. Reichardt (vgl. zu Nr. 400) wurde in den Xenienwegen seiner revolutionären Richtung heftig angegriffen. 23 Vgl. 252, 4 –6. 33 Wielands Parentation im Klub: vgl. 212, 24–27. 262, 12f. Frl. v. Schuckmann: vgl. Nr. 450†. 15ff. Ahlefeldt schreibt am 21. Okt.1796 aus Bayreuth an Jean Paul (Nr. 140), er werde sich am 26. Okt. aufder Rückreise nach Berlin kurze Zeit in Hof aufhalten; Nr. 2 ist also vermutlich einige Tage später als das erste Blatt geschrieben, wie auch dieStellung von K zeigt; vgl. zu Nr. 450. 25f. Becker hatte am 19. Sept.1796 an Jean Paul (Nr. 137) geschrieben, im ersten Aufsatz des 3. Bändchens der „Erholungen“, „Klamersruh“ von Klamer Schmidt, werde eretwas ihn selbst Betreffendes finden. (In der Vorrede dieser „ländlichmalerischen Dichtung“ wird ein Wort aus dem Hesperus des „alles vergöttlichenden Einsiedlers zu Hof im Voigtland“ angeführt.) 28–30 Kinderbonmots-Anthologie: eine von Jean Paul angelegte Sammlung witzigerAussprüche seiner Schwarzenbacher Schüler und Schülerinnen (Wahrheit4,260—271); vgl. 381, 5–8. 263, 19 für einen andern: Christian Otto. 36ff. Caroline: Oertel kam der Bitte nach in einem Brief an Amöne vom12. Nov. 1796 (Koburg).

    How to cite

    Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_441.html)