Von Jean Paul an Barbara Juliane Freifrau von Krüdener. Hof, 4. April 1797.
Brieftext
Ich hätte leichter alles errathen als mich — Wie todtenbleich sind
Briefe gegen die
lebend[ige] Gegenwart. Der mit Dinte
gemalte
Wiederschein des innern Feuers hat nicht die Wärme,
nur die Farbe
des Feuers. Auf welchen Grund und mit welcher
Farbengebung könt’
ich das Altarblat malen, das die glühende
Begeisterung unsrer ersten
Zusammenkunft trüge? Würden
nicht auf der kalten Leinwand alle
Flammen zu dunkeln Kohlen
erkalten? — Herders Geist ist ein
lebend[iges]
Sternensystem, seine Wege sind Milchstrassen und sein
Herz
eine warme Sonne: wie könte ein solcher Geist den Tempel der
Schöpfung in eine Begräbniskap[elle] des
Geistes und den erhabnen
Isisschleier der Geisterwelt
in einen Leichenschleier verwandeln? Der
Materialismus ist das Blutgerüst der Geisterwelt: er könte
eher alle
Irthümer haben als den tödtlichsten. — Bis auf jenen
Zeitpunkt
halten nur meine
Phant[asien], nicht meine Augen
[Ihr Bild?] vor
mein bewegtes Herz. Ich kan nicht den Muth haben, Sie um das
Geschenk zu bitten — nicht den, es zu hoffen — kaum den, dafür
zu
danken; aber doch den, meine Entzückung zu weissagen. Wie
schön
wird die Stunde sein, wo ich Ihnen mit vollem Auge und
Herzen sage:
ich habe unsre lezte nie vergessen. — Ich fass’
[?] es nicht, wie sie
mehr Himmel als Wolken, mehr Blumen als Boden in diesem
engen
Leben sieht und findet. Nur Arbeit verhült die
Oede des Daseins.
Begeisternde Seele.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_579.html)