Von Jean Paul an Christian Otto. Hof, 7. April 1795.
Brieftext
Während du drunten beim Alten vom Berge über mein Entlaufen
zürnst: hab’ ich erst deine radierten Blätter langsam
überschauet.
(Nachmittags, im durstigen Zwischenraum
zwischen Wein und Bier ist
drunten meines Bleibens nicht)
Du kanst Tagelang von dir reden, nur must du es nicht entschuldigen,
welches das einzige Fehlerhafte dabei ist. Man kan 1) ohne — 2)
mit
Eitelkeit etc. von sich reden und schweigen: gute
Menschen machen ihr
Ich zum Postament und Mahlergestelle des
Universums und mahlen
aufs Individuum das Algemeine hinauf; —
andere kehren es um und
machen die Erdkugel zum Fusgestelle
ihrer Winzigkeit und meinen —
wie die Franzosen, wenn sie man sagen — unter den algemeinsten Be
hauptungen nur Sich. Da du bei
deiner Selbstschäzung die fremde
nicht versehrest und in deiner
keinen Fehler begehst als den, der dem
gewöhnlichen
entgegengesezet ist: so schildere dich so lange du wilst; nur
tadl’ es nicht. Beim Himmel! kan man denn aus seinem Ich heraus
und womit? Wir schämen uns ordentlich alle, nur eines zu haben
und
thun als wenn nur der andere ein Er haben dürfte:
und der andere thut
wieder so und so gehts miserabel in der
Welt — Wenn wir einmal alles
fremde Gute achten: so wollen wir
unsers auch achten — und du
brauchst am allerwenigsten, und
noch weniger gegen mich, um absolu
tionem in articulo Ipsitatis anzuhalten.
Aber zur Sache, oder zur andern!
ad N. 1. Das ist wahrlich das Umgekehrte. Es schmerzet mich
bitter,
daß du immer meinem Tadel die gröste Ausdehnung, und
meinem Lobe
die gröste Einschränkung ertheilst und jenen für
entfahren und dieses
für wilkührlich, jenen für Urtheil des Kopfes, dieses für das des
Her
zens ansiehst. Glaube mir,
so strömend ich gewöhnlich im Enthusiasmus
die Leute ins Gesicht
lobe ....
d. 10 April. (Ich fahre wie ein Wechselfieber erst nach 3 Tagen fort)
— so that ichs doch nie bei dir, weil du selber, gleichsam für
den 〈im
Namen des〉 andern bescheiden, nur ein pythagoräisches
Karthausenlob
ertheilst, und alle meine Aeusserungen sind nur Anfänge
jener Aus
brüche, keine ganzen Ausbrüche
.... Ich habe heute am Freitag
1000 Dinge vergessen, die ich am
Sontag sagen wollen.
2. Eben diese Selbstkentnis oder Selbstverkentnis taugt wenig. Werfe
dich in die Materie: so zieht sie dich von selber. Die Briefe —
nicht deine
sondern alle — sind blos deshalb besser als
Bücher, weil dort die Bahn
das Ziel ist und weil man über die
schnel hinter einander aufspringenden
kleinen Quellen (stat
Eines Buch-Stromes) sich und seine Fahrzeuge
vergisset. (Die
Allegorie wil nicht passen)
3. Nego majorem et minorem. Ich vergleiche dich überhaupt
nur
mit dir, — sonst wär’ es leichter, dir den Tref-,
Zier- und Spiesdank
ohne Abzug zuzutheilen — Aber weder im
Vergessen noch im Andeuten
des Planes scheinest du zu sündigen:
sondern die Materie wird über dich
oft Herr stat du über sie.
Ich meine, weil du viele Gedanken erst unter
dem Gebären
zeugst: so mus dir — wie es jedem, sogar dem erklärtesten
Belletristen geht, der über Dinge schreibet, wo er nicht den Beobach
tungsgeist, die Erinnerung, die
Gelehrsamkeit, sondern den Scharfsin zu
Hülfe nehmen mus, der
zugleich gebiert und zeugt — die Art, wie sie dir
das erstemal
einfallen, die sein, wie sie dir aufs Papier entgleiten; jene
Art aber modelt sich im Historischen immer nach der Art der historischen
Quellen am leichtesten. Kurz in Briefen interessieren oder
übermannen
dich die schnel-abwechselnden Materien weniger;
im Buche steht ein
blendender Kolos von weissem Marmor vor dir,
über dessen Besehen
du das Bekleiden vergissest. Daher z. B.
behalte ich weit mehr im
1 Theil, wo meine mikrokosmische
Geschichte noch steter fliesset, zur
Verzierung Kräfte,
als im 3ten, wo sie mich mit schwemt. Aus dem
selben Grunde, aus demselben Verlieren in
die Materie, ist es für viele
schwerer, eine philosophische als
eine leidenschaftliche Gedankenfolge
darzustellen. Jenem
Verlieren aber entgehest du bei jeder 2ten Bearbei
tung derselben Sache.
4. Ich hoffe, daß du damit nichts gesagt haben wilst; sonst verschwür’
ichs, ein einziges kritisches Wort über deine Sachen zu sagen.
Über
haupt ist mit kein Tadel bitterer
und ärgerlicher, als der, mit dem du
immer — dich belegt.
5. Es ist kein Misverständnis. Ich wuste wol, daß der Mensch, der
unter eignen Leiden allemal die ganze Menschheit für leidend halten
mus und dem hinter seinem Trauerflor die ganze Ebene
verfinstert
und dämmernd erscheint, schon den halben
Flor zerrissen hat, wenn er
nur andere für glüklicher nehmen
darf. Aber das was ich dir ent
gegensezte,
solte blos dein Bedürfnis, um jener Ursache willen zu hau
sieren, widerlegen: auch kan ich von keinem Menschen — schon
wegen
des schamrothen Gefühls, da wir alle eine Gleichheit
des Schiksals
verdienen — die Behauptung ausstehen: er
sei minder glüklich als ich.
Deine übrigen Anmerkungen sind eben so richtig als schön gesagt
— die über mich können wir mündlich bereden.
Man erbittet sich die Retour seines Eigenthums; und später irgend
einmal auch die der eignen Aufsäze über Magie, Fälbel und Liebe
samt
deinen Anmerkungen dazu, deren Foderung ich jezt, da
ich lange nichts
fertig bringe so bald nicht wiederholen werde.
Lebe wol und vergieb
der Eiligkeit das Halbe, Mangelhafte und
Unbestimte meines Gesages.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_96.html)