Von Jean Paul an Joseph von Görres. Bayreuth, 25. März 1805.

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Brieftext

Bayreuth d. 25 März 1805

Ob ich gleich selten Ungesehenen schreibe — da ein Brief als ein
schriftliches Gespräch ein mündliches voraussetzt —, so mach’ ich
doch gern bei Ihnen eine Ausnahme, weil einem Geiste wie der
Ihrige, dem ohnehin so viel wahres Unrecht geschieht, nicht auch
das geträumte wiederfahren soll, das er mir schuld gibt. Erstlich in der
„Note“ meint’ ich nicht Sie — denn ich lernte Sie erst bei dem Ver
fassen der dritten Abtheilung kennen — nicht irgend einen Einzelnen,
sondern ein ganzes jetziges Volk, das gleich der Dohle zugleich
stiehlt und schimpft.

Mein Lob in der Vorrede meint es sehr ernsthaft, wiewol die
Fülle der Materie keine runde Bestimmung erlaubte. Den Tadel
würd’ ich mündlich noch stärker ausdrücken als gedruckt; indeß sind
nur die Aphorismen, nicht die vortreffliche Organonomie gemeint,
noch weniger Ihre Aurorens Musenpferde in der Aurora. Die leere
Weite der jetzigen Aesthetik verdirbt Dichter und Philosophen zu
gleich.


Ihr Beispiel, von der Welt der Anziehungskraft herge
nommen, paßt so wenig, als wenn Sie es von der Weite der Farbe
genommen hätten, welche gleichfalls alle Körper (außer das Licht)
überzieht.


Ihren reichen Geist wird man so lange verkennen, als er in der
Wahl der Leiber, worin er Mensch wird, zu eigensinnig ist. Dazu
rechne ich zuerst die einförmige Jamben- oder auch Trochäen
Skansion — dann das Bilder-Erstürmen, das ganze Bilder wieder
zu Farben größerer macht. Warum sperren Sie denn so romantisch
schillernde Flügel wie Ihre in die Eisgrube der Transszendenz?
Warum machen Sie Ihrem poetischen Herzen nicht Luft und Aether?
Ich meine, warum geben Sie — anstatt das philosophische Lehr
gebäude auf den Musenberg zu setzen, und wieder aus dieser Bergart
jenes zu mauern — nicht lieber beiden Größen geschiedene
Plätze?


Diese Fragen thut nur die Liebe und die Achtung. Es geh’ Ihnen
wol!

J. P. F. Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 5. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1961.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: W. Kluge, Berlin. 4 S. 8°. K: Goerres d. 25 [?] März. i: Wahrheit 7,25× (12. März). *J: Denkw. 3,124. 31,1 gibt] aus giebt H K 4 Volk] davor gelehrtes K 7 runde] nachtr. H erlaubte.] danach gestr. Ihr Geist H 21 macht] davor gestr. braucht. H 24 geben] davor gestr. scheide H 25 Musenberg] aus Parnaß H aus] aus mit H K

Vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), V, Nr. 43. 31, 2 Die Note, durch die sich Görres getroffen fühlte, ist vermutlich die zum § 26 der Ästhetik (I. Abt., XI, 93), wo Jean Paul darauf hinweist, daß er die Theorie des Lächerlichen als Gegensatz des Erhabenen schon im Hesperus angedeutet habe, und hinzufügt: „Ich merk’ es an, damit man nicht glaube, daß ich meine eignen — Diebe bestehle, wie es zuweilen scheinen kann.“ 6 In der Vorrede der 1. Auflage der Ästhetik hatte Jean Paul den Wunsch ausgesprochen, der „reiche warme Görres“ möge die Methode zwecklosen Vergleichens in der Ästhetik gegen eine würdigere Bahn seiner Kraft vertauschen. Die 2. Auflage bestätigte ihm, daß er es getan habe (I. Abt., XI, 14). 9 „Aphorismen über die Kunst“, Koblenz 1804, und „Aphorismen über die Organonomie“, Koblenz 1803. 10 In der Münchner Zeitschrift „Aurora“ (1804—05) hatte Görres eine Reihe von Charakteristiken und Kritiken veröffentlicht (wieder abgedr. von Franz Schultz, Köln 1900), darunter auch eine über Jean Paul; vgl. Nr. 96.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/V_86.html)