Nr. 16 Ministerrat (23. Juli 1914–22. November 1916)

Zum TEI/XML Dokument
Nr. 16Ministerrat, Wien, 29. August 1914

RS.Reinschrift; P. Ehrhart; VS.Vorsitz Stürgkh; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Stürgkh 29. 8.), Georgi, Hochenburger, Heinold, Forster, Hussarek, Trnka, Schuster, Zenker, Engel, Morawski.

  • I. Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung betreffend die Ermächtigung der Vorstände von Krankenkassen und Bergwerksbruderladen und der Ausschüsse von Ersatzinstituten der Pensionsversicherung zu besonderen Vorsorgen während der Dauer des Kriegszustandes.
  • II. Verhängung der polizeilichen Verwahrungshaft über staatsgefährliche Individuen.
  • III. Ausprägung von Scheidemünzen.
  • IV. Sequestration der Filialen österreichischer Kreditinstitute in England.
  • V. Erwirkung des Ritterkreuzes des Franz Joseph-Ordens für den Grubenbesitzer Josef Rothenberg in Tustanowice.
  • 6845 Protokoll des zu Wien am 29. August 1914 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh.
    I. Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung betreffend die Ermächtigung der Vorstände von Krankenkassen und Bergwerksbruderladen und der Ausschüsse von Ersatzinstituten der Pensionsversicherung zu besonderen Vorsorgen während der Dauer des Kriegszustandes

    I. Soziale FürsorgeKriegsmaßnahmen Der Minister des Innern erbittet und erhält die Zustimmung des Ministerrates zur Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung aufgrund des § 14 betreffend die Ermächtigung der Vorstände von Krankenkassen und Bergwerksbruderladen und der Ausschüsse von Ersatzinstituten der Pensionsversicherung zu besonderen Vorsorgen während der Dauer des Kriegszustandes3.

    Die Krankenkassen und die verwandten Institute, welche unter den gegebenen Verhältnissen erhöhten Anforderungen gegenüberstehen, sind insoferne in einer nicht günstigen Lage, als ein großer Teil der jüngeren und daher auf der Aktivseite der Kassen in Betracht kommenden Mitglieder im Kriege stehen, also keine Beiträge leisten, und als im Übrigen die Einhebung der Beiträge von den bei den Kassen verbleibenden Mitgliedern vielfach erschwert ist. Die angesammelten Reservefonds würden zur Deckung dieser Abgänge kaum ausreichen und es sei daher notwendig, statutarische Änderungen vorzunehmen, welche es den Kassen ermöglichen, sich auf die gesetzlichen Minimalleistungen zu beschränken. Derartige Statutenänderungen seien aber an Beschlüsse der Generalversammlungen gebunden, welch letztere im gegenwärtigen Zeitpunkte nicht gut einberufen werden können. Durch die vorgeschlagene kaiserliche Verordnung soll nun die Kompetenz für einschlägige Beschlüsse, die zur Vorsorge im Interesse der Mitglieder oder der Kasse dringlich erscheinen, während der Dauer der durch den Kriegszustand hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse den Vorständen übertragen werden4.

    II. Verhängung der polizeilichen Verwahrungshaft über staatsgefährliche Individuen

    II. KriegssicherheitsmaßnahmenPräventivhaft Der Minister des Innern konstatiert, dass während der Dauer des Kriegszustandes sich vielfach die Notwendigkeit herausgestellt habe und auch weiterhin herausstellen könne, Personen, deren staatsgefährliche Gesinnung eine den Kriegszweck gefährdende Haltung befürchten lasse, in vorläufige Verwahrung zu nehmen.

    Derartige Fälle hätten sich insbesondere bei den Russophilen in Galizien und der Bukowina5 sowie bei den Serbophilen in Dalmatien ergeben. Habe nun die staatsfeindliche Gesinnung der betreffenden Personen bereits zu konkreten strafbaren Handlungen geführt, so erfolge ihre Verurteilung und damit ihre weitere Internierung im Sinne der Durchführung des strafgerichtlichen Erkenntnisses. Schwieriger gestalte sich die Sache in solchen Fällen, wo eine konkrete strafbare Handlung nicht nachgewiesen werden und somit eine Verurteilung nicht Platz greifen könne. Nach den bestehenden Vorschriften müssten solche Personen wieder in Freiheit gesetzt werden, was aber unter Umständen vom Standpunkte der Vorsorge für die Sicherung des Kriegszweckes absolut unzulässig erscheine. Es sei klar, dass die Regierung in solchen Fällen über das Gesetz hinausgehen müsse. Es ergebe sich aber die Frage, welcher Modus dafür einzuschlagen sei. Einerseits könnte nämlich die Regierung die weitere polizeiliche Festhaltung solcher Personen ohne eigentliche gesetzliche Handhabe via facti vornehmen und gegebenenfalls die Maßnahme späterhin mit ihrer unabweislichen Notwendigkeit rechtfertigen, ein Gesichtspunkt, der allgemeine Anerkennung finden müsste. Oder aber es wäre möglich, durch Schaffung einer kaiserlichen Verordnung über die polizeiliche Verwahrung für derartige Schritte eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Der sprechende Minister wolle nicht verkennen, dass der letztere Weg mannigfache Bedenken gegen sich habe. Es sei jedenfalls misslich, derartige Maßnahmen, die in concreto unerlässlich erscheinen und daher getroffen werden müssen, durch Schaffung einer gesetzlichen Grundlage geradezu programmatisch in Aussicht zu nehmen, und letzteres könnte die beteiligten Behörden, an deren feines Verantwortungsgefühl gerade in diesen Belangen die größten Anforderungen gestellt werden müssen, zu Übergriffen verleiten.

    Der Justizminister konstatiert, dass seitens des Kriegsüberwachungsamtes an die Militärkommanden Weisungen ergangen seien, welche sich gegen ein allzu ausgebreitetes Vorgehen in Ansehung der Verhängung einer polizeilichen Präventivhaft richten. Der Ministerrat spricht sohin einmütig seine Anschauung dahin aus, dass von der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage in dieser Richtung abzusehen wäre6.

    Wo in concreto die Gerichte für ein Verfahren die erforderliche Handhabe nicht finden, wären zunächst die Verhafteten der Polizeibehörde zu überstellen, welch letztere sich an die militärischen Organe mit der Anfrage zu wenden hätte, ob die weitere Inhaftbehaltung trotz des Mangels konkreter Tatbestandsmomente im Interesse der Kriegführung unerlässlich sei. Bejahendenfalls müssten dann die Polizeibehörden unter Verantwortung der Regierung die betreffenden Personen in geeigneter Form weiterhin in Gewahrsam halten. Auf diese Weise würde jede einzelne derartige Maßnahme in einem vorgeschrittenen Stadium, wo die Voraussetzungen bereits besser überblickt werden können, nochmals der Cynosur der Militärbehörden unterworfen und damit eine gewisse Garantie gegen sachlich ungerechtfertigte Verlängerungen der Haft geschaffen. Die Durchführung dieser Modalitäten wäre durch eine entsprechende generelle Requisition des Ministers des Innern beim Justizministerium einzuleiten7.

    III. Ausprägung von Scheidemünzen

    III. GeldwesenHartgeldmangel Der Leiter des Finanzministeriums teilt mit, das gesetzlich festgestellte Kontingent für die Ausprägung der Nickel- und Bronze-Scheidemünzen sei erschöpft, weshalb bereits in der letzten Session des Reichsrates die Einbringung eines Gesetzentwurfes wegen Erhöhung dieses Kontingentes in Aussicht genommen worden sei. Hiezu sei es wegen der parlamentarischen Verhältnisse nicht gekommen8.

    Nunmehr habe sich aber bekanntlich ein dringendes Bedürfnis nach Scheidemünzen ergeben, weshalb mit der ungarischen Finanzverwaltung die Vereinbarung getroffen wurde, mit den Ausprägungen vorzugehen9 und die gesetzliche Indemnität im geeigneten Zeitpunkte nachträglich zu erwirken. Es handle sich hiebei um eine Erhöhung der Kontingente der Nickelmünzen von 80 Millionen Kronen auf 100 Millionen Kronen und der Bronzemünzen von 26 Millionen Kronen auf 36 Millionen Kronen. Da die Verteilung des gesamten Kontingentes an Scheidemünzen nach dem Verhältnisse von 70 zu 30 erfolge, würde hievon auf die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder bei den Nickelmünzen eine Vermehrung um 14 Millionen Kronen (von 56 Millionen Kronen auf 70 Millionen Kronen) und bei den Bronzemünzen um 7 Millionen Kronen (von 18,200.000 K auf 25,200.000 K) entfallen. Es sei beabsichtigt, die Ausprägungen nur nach Maßgabe des dringenden Bedarfes durchzuführen, im Falle der Notwendigkeit aber den ganzen Betrag der neuen Münzkontingente ausprägen und in Verkehr setzen zu lassen. Der Leiter des Finanzministeriums nehme die Erwirkung einer Ah. Ermächtigung zu dem dargelegten Vorgang in Aussicht, welchen auch der kgl. ung. Finanzminister einhalten werde.

    Der Ministerrat nimmt diese Mitteilung genehmigend zur Kenntnis10.

    IV. Sequestration der Filialen österreichischer Kreditinstitute in England

    IV. Wirtschaftsunternehmen, ausländischeVergeltungsmaßnahmen Der Leiter des Finanzministeriums teilt mit, die englische Regierung habe die Filialen der österreichischen Kreditinstitute in London (Länderbank, Anglobank und Unionbank) nach einer an diese Kreditinstitute gerichteten Zuschrift in der Weise sequestriert, dass diese Filialen nur zur Abwicklung ihres bisherigen Geschäftes weitere Transaktionen, und zwar nur mit Genehmigung des eingesetzten Liquidators vornehmen und überhaupt keine Zahlungen an Ausländer leisten dürfen. Auch habe sich die englische Regierung die Verfügung über das restierende Saldo der Liquidierung vorbehalten. Es werde sich daher die Notwendigkeit ergeben, im Wege der Retorsion entsprechende Verfügungen hinsichtlich der hierlands befindlichen privaten Guthaben und englischen Filialen zu treffen.

    Der Ministerrat nimmt diese Mitteilung zur Kenntnis11.

    V. Erwirkung des Ritterkreuzes des Franz Joseph-Ordens für den Grubenbesitzer Josef Rothenberg in Tustanowice

    V. Auszeichnungen Der Ministerpräsident teilt mit, der Minister des Äußern nehme die Erwirkung des Ritterkreuzes des Franz Joseph-Ordens für den Grubenbesitzer Josef Rothenberg in Tustanowice in Aussicht. Der Genannte habe sich im Zusammenhang mit der albanesischen Frage große Verdienste erworben. Inzwischen sei im Wege der Statthalterei in Galizien auch konstatiert worden, dass gegen die Erwirkung einer Ah. Auszeichnung für Rothenberg kein Bedenken obwalte und dass, obgleich der kaiserliche Ratstitel als zunächst angemessener Auszeichnungsgrad erscheine, auch gegen die Erwirkung des Ritterkreuzes des Franz Joseph-Ordens eine Einwendung nicht zu erheben wäre. Angesichts des besonderen Gewichtes, welches das Auswärtige Amt auf die Ah. Auszeichnung Rothenbergs lege, beabsichtige der sprechende Minister sich einverstanden zu erklären, wobei die Erwirkung dem Minister des Äußern überlassen bliebe.

    Der Ministerrat erteilt hiezu seine Zustimmung12.

    Wien, am 29. August 1914. Stürgkh. Ah. E.Allerhöchste Entschließung Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Wien, 16. Dezember 1914. Franz Joseph.

    1This TEI document has been used to generate a printed version of this edition
    2978-3-7001-9298-5
    3Die Krankenkassen waren mit Gesetz v. 30. 3. 1888, Nr. 33/1888, eingeführt worden, zuletzt besprochen im MR. v. 14. 3. 1888/VII; die Reform der Bruderladen (Pensions- und Krankenkassen der Bergarbeiter) war mit Gesetz v. 28. 7. 1889, Nr. 127/1889, erfolgt, zuletzt vom MR. behandelt am 9. 7. 1889/II; die Pensionsversicherung für Angestellte und ihre Ersatzinstitute war mit Gesetz v. 16. 12. 1906 geregelt worden, Nr. 1/1907, das davor im MR. v. 5. 12. 1906/III beraten wurde. Die Pensionsversicherung für Angestellte war zuletzt zur Sprache gekommen im MR. v. 24. 8. 1914/II. Die entsprechenden Protokolle sind nicht erhalten. Zu den Sozialreformen Taaffes siehe , Ideologische Konzepte zur Lösung der „Sozialen Frage“, 1445–1453; , Die Anfänge der modernen Sozialpolitik in Österreich.
    4Dem Vortrag Heinolds v. 31. 8. 1914 stimmte Franz Joseph mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung v. 6. 9. 1914 der Ermächtigung der zuständigen Minister zu, die entsprechenden Regelungen im Verordnungsweg zu erledigen, ., Kab. Kanzlei, KZ. 2165/1914, kaiserliche Verordnung v. 6. 9. 1914, publiziert als Nr. 238/1914. Mit der Verordnung des Ministers des Inneren v. 7. 9. 1914, Nr. 239/1914, wurden diese Bestimmungen für die Krankenkassen und Pensionsversicherungsanstalten, mit der Verordnung des Ministers für öffentliche Arbeiten v. 19. 9. 1914, Nr. 254/1914 für die Bruderladen umgesetzt. 1917 wurde die kaiserliche Verordnung, ohne vorher im Ministerrat besprochen worden zu sein, über Vortrag Toggenburgs v. 2. 11. 1917 als Gesetzentwurf mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung v. 20. 11. 1917 in den Reichsrat eingebracht, ., Kab. Kanzlei, KZ. 2262/1917, und von diesem angenommen (Abgeordnetenhaus AH. 11. 10. 1917 (28. Sitzung) 1438 f., Herrenhaus HH. 30. 11. 1017 (46. Sitzung) 2396). Über Vortrag Toggenburgs v. 27. 12. 1917 wurden die Bestimmungen nunmehr als Gesetz mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung v. 30. 12. 1917 sanktioniert, ., Kab. Kanzlei, KZ. 2680/1917, publiziert als Nr. 524/1917.
    5Die sogenannte staatsfeindliche Gesinnung in Galizien und der Bukowina war wesentlich darauf zurückzuführen, dass das Armeeoberkommando darüber seine desaströsen Niederlagen zu rechtfertigen suchte, , The Fortress, 51 f.
    6Eine entsprechende kaiserliche Verordnung war vo Innen-, Landesverteidigungs- und Justizministerium vorbereitet worden. Sie wurde aufgrund des Beschlusses des Ministerrates, sie nicht zu beantragen, und als Material für eine allfällige spätere Regelung dieser Materie am 2. 9. 1914 ad acta gelegt, , IM., Präs. 11469/1914.
    7Die Internierungen und Konfinierungen wurden wie vom Innenminister vorgeschlagen ohne Rechtsgrundlage durchgeführt, in Zusammenarbeit von zivilen und militärischen Behörden, insbesondere dem Kriegsüberwachungsamt. Am 24. 8. 1914 hatte das Kriegsüberwachungsamt eine Weisung an Innen-, Justiz- und Finanzministerium gesandt, das am 27. 8. 1914 dort einlangte. ., KÜA., Karton 5, Zl. 2647/1914. Es wurde von den Gerichten verlangt, hart durchzugreifen, vom Militär, nicht wahllos zu verhaften und nach der Verurteilung sofort an zivile Stellen zu überweisen. Auf die Überfüllung der Verwahrungsorte und falsche Verhaftungen wurde hingewiesen. Siehe dazu , Österreichische Regierung und Verwaltung im Weltkriege, 274 f., , Das k. u. k. Armeeoberkommando, , Wesen und Folgen der österreichischen Kriegsdiktatur 1914–1917, , Krieg und Brutalisierung sowie Einleitung, Abschnitt Repressionen und Exzesse. Das Thema kam erneut zur Sprache im MR. v. 5. 7. 1917/VI (Protokoll nicht erhalten).
    8Dem zu sanktionierenden Gesetzentwurf zur Kontingenterhöhung hatte Ungarns Finanzminister Teleszky mit Schreiben an Engel v. 23. 1. 1914 zugestimmt, FM., allg., Zl. 6612/1914. Die XXI. Session des Reichsrates wurde dann am 16. 3. 1914 vertagt und am 23. 7. 1914 geschlossen. Siehe MR. v. 16. 3. 1914/I und v. 23. 7. 1914/III.
    9Mit Schreiben v. 18. 8. 1914 an Engel stimmte Teleszky der Ausprägung dieser Scheidemünzen zu, FM., allg., Zl. 63187/1914.
    10Der Vortrag Engels v. 16. 3. 1915 wurde mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung v. 22. 3. 1915 resolviert, jener Teleszkys v. 15. 3. 1915 mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung ebenfalls v. 22. 3. 1915, Kab. Kanzlei, KZ. 297 und 298, beide ex 1915. Am 7. 5. 1915 wurde die Verordnung des Finanzministeriums dazu erlassen und publiziert als Nr. 112/1915. Der entsprechende Akt des Ministerratspräsidium – ., Ministerratspräsidium, Zl. 4297/1914 – liegt nicht mehr ein. Siehe auch , Geldwesen, 95 f.
    12Auf Vortrag Berchtolds v. 3. 9. 1914 wurde Rothenberg die Auszeichnung mit Ah. E.Allerhöchste Entschließung v. 9. 9. 1914 verliehen, ., Kab. Kanzlei, KZ. 2180/1914.

    How to cite

    Die Ministerratsprotokolle 1848–1918 (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/mrp-static/MRP-3-0-08-1-19140829-P-0016.html)