Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Weimar, 13. November 1798.

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Brieftext

Weimar d. [13.] Nov. 98.

Mein guter Oertel! Die Stimme deiner Liebe kam zu mir wie ein
Nachtigallenschlag hernieder in meinen kleinen Frühling; und deine
Besorgnisse sind mir lieber als fremde Glükwünsche. Ich habe so recht
mitten in der Furche des Zuckerfelds mein Nest. Sogar mein Zimmer,
und die vortrefliche Hausfrau, die mit Muttersorge mir nicht die
kleinste Fracht des Lebens lässet und bei der ich zum ersten male die
volendete aisance geniesse, halten mich durch Lust an den Lesetisch
gekettet, damit ich keine fernere suchen solle. Ich thu’ es aber nicht
und finde hier unter allen meinen Bekanten recht grosse; und ich werde
immer mehr geliebt, zumal da ich jezt in meine ofne und warme Brust
zuweilen wie Polyphem, ein Aug’ einseze. Den ersten Abend wurd’
ich in der Retude von der Herz[ogin] Amalie zum nächsten Mittags
essen geladen. Das neue Schauspielhaus umfässet uns alle wie eine
Familie — nicht eben santa — mit reinen reichen Formen; und die
Musik ist Ein Ton, Eine lyrische Seele. — In Herders Herz zieh ich
immer tiefer hinein; und er in meines, wenns noch möglich ist. — Ich
sprach mit dem Erbprinzen; die Blumengöttin gab ihm die Rosen der
Jugend, die schlanke Länge; und die Idyllen-Unschuld. — Auch die
regierende Herzogin, die mich zu sich rufen lies, trägt ein jungfräu
liches und mütterliches Herz hinter einer mänlichen Brust. — Ich war
hier bei Goethe, in Jena bei Schiller, der in 3 Monaten seinen Wallen
stein ausgeschaffen haben wird; an „W[allensteins] Lager“ ist wenig
so wie an Sternbalds 2. Theil. Ich kritisiere nur überhaupt jezt
selten, weil ich Verzicht auf ausfüllende Genüsse gethan: sonst hätt
ich es schon beim 1ten aber weniger stark als bei dem 2ten gesagt, daß
es, gewisse herliche bowling-greens abgerechnet, keine historische oder
psychologische Entwickelung habe — keine Szenen — keinen Stof
— keine Karaktere — und lauter Dakapo’s etc. — und oft keinen Sin.
— Ach h. Richardson und Fielding bittet für uns! —

Auch Herder lobt deinen Fehdehandschuh für mich. — Du sprichst
von meiner harten Einsamkeit: ach! die hab’ ich nur verlassen,
aber nicht gefunden. Ich werde sobald keine Lobrede auf Leipzig
ausfertigen. — Herders und Böttigers Bibliothek sind mein geistiger
Freitisch. — Jezt hab’ ich doch ein Herzens-Ziel meiner Reisen mehr,
worauf ich mich einen langen Winter durch zu freuen habe! Leb wohl
mit deiner geliebten Liebenden!

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 4 S. 8°. K: Oertel 13 Nov. J: Denkw. 1,371× (dieNachschrift gehört zu Bd. II, Nr. 448). 116, 4 für den Monatstag hat JeanPaul, wie er zu tun pflegte, zunächst Platz freigelassen und dann vergessen, ihn auszufüllen H 7 mir lieber] aus schöner H 12 damit] aus daß H 22 schlanke] nachtr. H 24 mänlichen] aus festen H 25 hier] nachtr. H 29 es] nachtr. H beim] davor gestr. früher gefragt, und jezt mehr, H stark] nachtr. H 30f. oder psychologische] nachtr. H 32 und oft keinenSin. —] nachtr. H

116,14 f. Polyphems Auge: vgl. I. Abt., IX, 464,13†. 21 Erbprinz: Carl Friedrich, vgl. Bd. VI, Nr. 189f. 34 Fehdehandschuh: s. 96,20 †.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_155.html)