Von Jean Paul an Rebekka und Samuel Wulff Friedlaender. Weimar, 31. Dezember 1799.
Brieftext
Ich wil dieses Jahr mit keiner Schuld beschliessen, die ich tilgen
kan. Meine Sommerreisen und Herbstarbeiten haben mich bisher
von
der schönen Stunde entfernt, liebenswürdiges Paar,
worin ich mit
Ihnen sprechen wolte. Gerade der entdekte
Unterschied unserer Religion
— wenn es noch einer ist — gab mir eine Freude mehr und eine
noch
grössere Achtung für Sie, weil Sie mehr Vorurtheile
zu besiegen
haben, um uns, als wir, um Sie kennen und
lesen und lieben zu
lernen.
Der Verstand Ihrer Nazion wird einen immer reinern und höhern
Weg nehmen; aber wie sich das Herz derselben wärmer und heiliger
bilde, ist schwer zu prophezeien, da zu dieser Bildung immer
eine äussere
Form — die der Regierung, der Religion etc. —
gehört. Die jezige
ist die ungünstigste, die des kleinen
Handels. Unser ganzes Jahrhundert,
zumal in England, trinkt
aus dem merkantilischen Giftbecher; was
aber Ihr Volk am tiefsten zerrüttet hat, war die
Nothwendigkeit
weniger des Handels als des kleinen, und die eines gegen Feinde.
Ich habe einen Freund unter Ihrer Nazion „Emanuel in Bay
reuth“, mit dem ich wenige
Freunde aus der meinigen vergleichen
kan — moralisch-volendet,
stark und weich, thätig und denkend, un
erschütterlich und tolerant, für die Erde und den Himmel gemacht.
Seine Liebe für sein Volk hatte, da er Ihre lieben Briefe
sah, viel
Antheil an der zweiten Antwort darauf. — —
Leben Sie getröstet vor dem dunkeln Anblik der Zeit und stellen Sie
sich vor — um es zu werden —, daß das Jahrhundert nur eine
Stunde
in der Erdenzukunft macht; und dan wird Sie eine
flüchtige Wolke,
die über die Erde wegweht, weniger
irren. Antworten Sie mir wieder!
— Und lieben Sie einander
unverändert fort; dan brauchen Sie keinen
Wunsch im neuen
Jahrhundert! —
[Adr.] Herrn Samuel W. Friedländer, Königsberg in Preussen.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_371.html)