Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 11. September 1800 bis 18. September 1800.
Brieftext
Ich habe dir, liebes Herz, mancherlei zu melden, mehr Süssaueres
als Sauersüsses. Die Gräfin nachher — Geld — was ich sonst
wolte
— wil man jezt von mir. Die Liebman kam vorgestern mit
ihrem Kind
allein gefahren und wolte 1000 rtl. von mir, dan — da das
Abschlagen
leicht war, weil ich kaum das duplum überhaupt habe — 500. Eine
höllische Minute — die weinende Mutter — das schöne schweigende
Kind — das Unglük — die Erniedrigung — meine Angst über
die
Folgen ihrer Rührung und über die Mittel, ihr nur
ein Wort zu
sagen, das nicht zu tief einrizte — Indes blieb
ich ein langer Eis
zapfen, dem kein
Tropfen (aussen) entfiel. Heute thut sie die alte Fode
rung (nach meinen Vorschlägen und Abmahnungen von feigen
tollen
Extremen, z. B. Erzieherin in Berlin zu werden, —
das Seitenstük
zur früheren Hofdame) schriftlich wieder und ich
verneine. Derselbe
Postknecht bringt von Ahlefeldt eine Bitte um 200 rtl.; wovon ich ihm
auch die Hälfte assignierte; er ist rechtschaffen. Die Liebman hatte
7 oder 8 Carol. als Bezahlung der alten Schuld mit und legte sie
hin — natürlich muste sie sie wieder mitnehmen, da ich
nicht helfen
konte. Das Schiksal wil gern haben,
daß ich mir immer durch den
Bettelsak ein Luftloch
durchnage. — Abends kamen die (noch schulden
den) Herders zu mir — mein guter
alter Man sas froh auf meinem
Schreibstuhl neben Burgunder. Meine Seele kent keine
grössere Lust als
seine — ach ich lieb’ ihn recht und wir
haben jezt nichts trennendes
zwischen unsern Herzen
als die — Westen.
Die Gräfin! — Dir erzähl’ ichs; aber Emanuel würde wahrschein
lich irre; nach deinem Bedünken zeige entweder oder schweige oder
lies vor. Am Sontagsabends [!] as ich
mit ihr. Wir bewohnten dan
das Kanapee — die schöne lange
Gestalt, die durchaus harmonischen
Theile, die
gerade Nase und der feine zu besonnene gespante der
Berlepsch ähnliche Mund, aus dem aber, zumal in der
Liebesminuten
zeit eine so ins Herz einsikernde
Stimme bricht, daß ich sie in Gotha
bat, mir es zu sagen, wo ich ihr nicht glauben dürfte,
weil ich sonst der
Stimme wegen nie wüste, woran ich wäre
— das alles neigte sich an
meine Lippen. Unser Weg
gieng bergunter, d. h. schnel, wir legten in
Sekunden
Wochen zurük. Sie hatte noch die Hof-Brillanten an Fingern
und am Halse; und als ich warlich an dem lezteren nicht weiter rükte
als ein Rasiermesser an unserem — vergieb meine
Ungebundenheit,
da ich heute tol 〈wild〉 bin — so
schnalte sie das collier ab und machte
ungebeten die tiefern schönen Spizen auf. Sie hat Terzien
lieber als
Sekunden. (Ich wolte, das Publikum wäre so rein
wie du; Himmel,
welche Herzens-Landkarten mus man nicht in
der Tasche lassen?)
— Ein vornehmes Wesen hat leichter ein
Herz als ein Schnee
Weltgen darüber
(sogar das errieth ich im Hesperus); ihr globulus
hatte die Farbe und — Weichheit der Wolkenflocken;
wenigstens darin
findet ein zeitiger Ixion ein
Stük-Nebel-Juno. Dabei blieb die Doppel
glut; aber aus ihrem Anwinden und aus ihrem Wunsche, an
mir
zu schlafen und aus der Klage bei der lezten
Umarmung, daß ich sie
damit wieder aus der Ruhe gebracht,
war leicht auf die Zukunft zu
schliessen. Ich sagte zu ihr:
„Du (denn das war bald da) weist den
Teufel, wie oft
Männern ist“ Und so gieng ich. — Ich hatte in meinem
schlafenden Kopf fast das ganze schlagende Herz droben: „morgen
abends, — im gothaischen Gasthofe — ist eine Sache entschieden
(dacht’ ich die ganze Nacht), die es beinahe schon heute
war.“ Einmal
war ich fast dem Absagen der höllischen
Himmelfarth 〈himlischen
Höllenfarth〉 nahe. Aber ich fuhr
doch mit, und ein Herr v. Schilding —
— hiesiger Kammerjunker, mit gebognen Knien und Ideen und nie
bis an die Ferse lebendig, aber 〈rein und gut〉 jugendlich
und jung
fräulich-fortblühend, kam im
Gasthofe dazu und sezte sich improvi
satorisch auch ein, aber nur bis Erfurt. [Beschneiden des
schlechten
Papiers ist so viel wie feinstes
nehmen.] Der Gräfin botanische und
andere Kentnisse, ihre reisebeschreiberische Aufmerksamkeit auf jede
Fabrik etc., ihre Festigkeit und Besonnenheit und
enthaltsame Zunge
gegen S., dem sie doch wie allen
Männern, gefallen wolte, gefielen
mir. Sparsam ist sie doch auch mit, wie überal die
vornehmen Weiber.
— Wir kamen Abends in Gotha — mit holder leichter Liebe — an.
[Unsere Wohn- und Nacht-Stuben trente nur eine innere
Wand
〈Transito〉thüre.] Im dämmernden Mond-Abend vor dem
Essen
sas ich auf ihrem Kanapee — meine Lichter
[wurden] hereingetragen.
Die kleine
A[manda] lag an dem Mutterarm und
machte stum (wie
diese mir französisch sagte) vor Liebe zu ihr die
Hand mit Thränen nas;
ich lag am andern und wir kümmerten uns wenig um die ab
und zu
schreitende Dienerschaft. Ich könte die Schilderei
noch romantischer
färben, hätt’ ich so viel Leinwand als
Farbentusche. [Ich hatte eine
½
Himmelskugel unter meiner halben Hauptkugel. — Luna oder
Lucina. Man müste sich ein Publikum in der
Neujahrmesse auf den
Kauf bestellen, um dan davor es zu wagen, in der
Ostermesse mit einem
breiten Gemälde von allem
auszustehen, von der Gluth — dem Spiel etc.,
womit man
solche Kanapeeslustra rosenhaft auslaubt. Freier spielen
nie die Kräfte. — Die Natur „schäumte“ — der Ausdruk verdient
selber diesen Namen — weiblicher Schlaf nur eine façon de parler,
die beide Theile verstehen. — Ich gehe vor keiner
kolossalen Statue
vorbei ohne den Fund leichter
Aehnlichkeiten. —]
Der ganze nächste Abschiedsmorgen bis zehn Uhr — ich führte sie im
herzoglichen Garten herum („Sie haben sich eine schöne Frau
zu
gelegt“ sagte der uns begegnende
Herzog; auch auf dem Thorzettel
standen wir so) — war unbeschreiblich zart und süs;
— diese himlische
Stimme und diese Festigkeit und der ganze
Reiz des hohen vollen
Körpers, und diese Leichtigkeit des
Lebens und Liebens legen Franzis
kanerstricke um ein empirisches Ich.
Die Hauptsache ist, daß man bei
ihr gegen gar niemand sündigen kan. —
Glaube also nur nicht an irgend ein auch nur von Fernen ähnliches
Betragen bei Weibern — Mädgen sind ohnehin erhöhete
Sternbilder
für mein Gewissen —; bei Gott! ich bin
physisch-kalt und moralisch
heis
zugleich gegen Freundinnen wie in Hof gegen Mädgen (sie
müsten
denn den Satan zitieren d. h. nachahmen) Ich bekomme sie
jezt nach
der Apostel-Zahl in jeder Stadt; so in
Gotha und überal. In Berlin,
bei der grössern (aber nicht unmoralischen) Freiheit
küsten sogar Mäd
gen zuerst. Freilich
greif’ ich jezt manchen Operstrik der Sinlichkeit, an
dessen luft-farbiger Unsichtbarkeit sonst die Göttin schwebte, leichter
mit Händen. Eine trefliche Frau in G., deren Verhältnisse
mit mir
der Man mündlich das schönere mit ihm dankte,
sagte: „ich könte einer
Frau die Augen auskrazen, die Sie
sinlich liebte“ Das ist ja gerade die
eheliche Eifersucht. —
Von hier schreib ich nicht mehr; (hier liegt ein Brief von der Gräfin
Henriette) Ende Monats gehts fort. — Jacobi schikte mir
ein von
seiner sonderbaren moralischen Natur eingehauchtes
Urthel über den
Titan (Baggesen sprach ihm nach;
auch ist er mir wegen meiner kalten
Antwort auf seine künstliche Lohkuchen-Hize aufsäzig) Wie
sol ich es
mit deinem, dem Oertelschen in der deutschen
Fama, dem Thierio
tischen (das mir immer sehr gilt) und
dem Knebelschen u. a. reimen?
— Ich wil nachher noch ein wenig Plaz für eine
Antwort auf deine
morgende lassen, wenn sie komt. —
In Dessau nehm’ ich die Frau des
H[of]
R[aths]
Spazier mit nach
Berlin. — Herder wird mit einigen Donnerwolken in das
„Buch von
seinem Plagiat“ und in Kant und
Rezens[enten] fahren. — Lies
seine
Kalligone; und sein herliches früheres Buch „Auch
eine Philosophie
der Geschichte der Menschheit“. Seine frühen kenst du
überhaupt
nicht. — Ich ziehe ohne schwarze und lichte
Ahnungen von hier
fort. —
Hättest auch was schicken können. Du schreibst alzeit einen Brief auf
1 Siz; ich arbeitete von Woche zu Woche daran. Schreib mir
von deiner
Schwester. — Mein Pathgen Werner sprach ein mit Schnabelstiefeln
und einem Uhrkettenpaar; ich entlies ihn mit einigen
Groschen. Er
gefiel mir bis zur Unkentlichkeit; blizen und
donnern wird er freilich
über der Erde wenig; Mattigkeit
ist seine Sache. — Lebe wohl, grüsse
die 2.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_523.html)