Von Jean Paul an Christian Otto. Hof, 8. Mai 1795.

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Brieftext

Citissime
Hof. d. 8 Mai 95.

Lieber Christian,

Eben komm ich vom Spaziergang, wo mir etwas Kühnes durch den
Kopf gefahren ist, wozu ich dein Ja bedarf, dessen Verweigerung mir der
gröste Tort wäre. Es betrift den Herman. Du weist, daß sein gröster
Gehalt nicht in den Paar von ihm abgesprungnen Goldglimmern seiner
Schriften, sondern in der ganzen Textur und Krystallisazion seines
Wesens und Karakters besteht. Um ihn also darzustellen, mus man
weder blos jene geben noch diesen blos beschreiben. Denn kein Karak
ter kan in todten vagen Zügen sondern blos in Handlungen und Reden
nachgebildet werden — kurz nur dramatisch. Das Kühne ist also, daß
ich ihn mit seinem Namen geradezu in eine (schon entworfne) roman
tische nicht kleinliche Geschichte einführe, wo er, nicht weit von der
Hauptperson, ohne viele Handlung seinen ganzen Karakter ausbreitet.
Freilich ist diese Geschichte nicht im geringsten seiner wirklichen ver
wandt. Er sol darin, in diesem Rauche vor einem Holspiegel, lebendig
werden und sich regen so weit es meine arme Hand vermag. Ich werde
mich um kein Urtheil in Hof bekümmern, wenn deines es nicht ratifi
ziert. Dan füg’ ich (troz dem Schaden, den ich der Illusion thue) dem
Buche einen Anhang bei, wo ich das Wahre seiner Geschichte und einige
zusammengedrängte Aufsäze (indes ich viele seiner Meinung[en] ins
Buch verstreue) als eine Frage gebe, ob man mehr wolle. Das Honorar
des Anhangs und alles dessen, was er erfindet im Buch, gehöret natür
lich seinem Vater und wird dadurch grösser, weil ich für mein Buch
(zumal jezt) mehr erhalte als für seines.

Ich mag dir die Stiche nicht vorzählen, die mir bisher die Er
scheinung seines Vaters oder der Gedanke an ihn durch die Seele
gab — und doch war ich an 2 eiserne Ketten gebunden — 1.) an meine
Bedürfnisse, die mir durchaus keine halbjährige Unterbrechung
meiner eignen Schreibereien vergönten — 2) an den jezigen philo
sophischen Geschmak, dem seine Metaphysik halb zuwider halb nicht
neu genug ist, da er zu wenig las. Der blosse Styl war, da die meisten
Philosophen jezt nicht einmal seinen haben, seinen Schriften nicht am
meisten nachtheilig. Kurz ich konte bisher unmöglich das zu jeder
Arbeit unentbehrliche Feuer bei der Besorgnis erhalten, daß der blos
philosophische Richterstuhl mit den Erwartungen unzufrieden sein
werde, die mein Lob des Verfassers so hoch spannen muste. Ich weis,
du trenst meine Verehrung seiner Genialität von dem Urtheil über
seine Werke. So kont’ ich z. B. in dem ins Reine geschriebenen im
1 Theil nicht fünf auffallende Gedanken finden.

Schreib mir heute noch, weil jezt meine ganze aufgerüttelte
Phantasie zukt und brüten wil — schreibe mir auch noch einige
Kautelen — Und schicke mir (aber auch bald) einige seiner Briefe,
wenn dein Urtheil sie nöthig findet. In der idealischen Geschichte aber
bleibt er Doktor und Grafenhofmeister. Ich lechze jezt ordentlich nach
der ersten Zeile, wo sein Name vorkömt.


R.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 3 S. 4°. K (nachtr. im 4. Briefbuch nach Nr. 261) ohneÜberschrift. J: Otto 1,252. 82,28 Mai] aus Ap[ril] H 33 den] einem K 36 blos] beidemal nachtr. H 83,2 (schon entworfne)] nachtr.; entworfnen H 9 der Illusion] aus mir H 24 unmöglich] aus nicht H 27 Verfassers] aus Buchs H spannen muste] aus gespant habe H 34 sie] aus es H idealischen] nachtr. H

Vgl. Bd. I, Nr. 346† und 374. Es handelt sich um die BiographischenBelustigungen. Den ursprünglichen Anfang, worin Hermann, wie hiergeplant, persönlich auftritt, habe ich im Jean-Paul-Jahrbuch, Berlin 1925,S. 155—183, veröffentlicht.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_108.html)