Von Jean Paul an Christoph Martin Wieland. Weimar, 18. Juni 1796.
Brieftext
Jean Paul ist endlich in der heiligen Stadt Gottes, nach
welcher er
von Jugend auf wie nach einer Keblah seine Augen richtete. Er
war
im Musentempel zu Tiefurth, aber dieser glich einem
altgriechischen,
der Tempel war ohne das Bild des Gottes, und der Gott
war nur
unsichtbar da. Deswegen spreche der Verfasser des
erhabenen Oberons
dieses wagende Blätgen frei, das mit meiner Liebe, mit
meiner
Ehrfurcht und mit meinen Wünschen für Sie bis zu den
Alpen und zu
Ihnen fliegt und womit ich die getäuschte Sehnsucht mildere.
Sie wird
gros bis zum Schmerz, wenn man vom Gegenstand wie von der
Freiheit überal sprechen höret, indes beide wie die Krystalle
so hoch und
so ferne, bei den Gletschern sind. — —
Die Träume meiner Phantasie flogen Ihnen oft auf Ihrem
Rükzuge
ins gelobte Land der Jugend nach; und wenn sie dan nichts
sahen als den beglükten Dichter und den Solon der Zeit, vor dem im
Herbste seines Lebens alle Bäume und Haine des
Jugend-Arkadiens
wieder in die Blüte traten: so sagt’ ich: „o, es sei dir
unendlich wol,
„von uns allen Geliebter! — Auf die Natur um
dich falle der doppelte
„Wiederschein der Dichtkunst und der
Vergangenheit! Apollo, der dir
„alles gegeben, schenke dir auch seine ewige Jugend! —
Und dan
„wenn die Natur in ihrer grossen Gestalt dich erhoben hat, so
„erscheine sie
dir, ohne ihre Alpen und Seen, in der sanftern und
„falle in der Gestalt deiner Tochter an dein Herz — dan ist
dein volles
„Leben belohnt!“ —
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_339.html)