Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 6. August 1796.
Brieftext
Indem ich träg meine Taschenuhr über den Tisch her zerre zum
Dat[um]: bemerk’ ich, wie wenig alle
Erleichterungen des Luxus das
Dasein erleichtern. Anfangs war
man froh, daß man das neue
Monath und den neuen Mond
errieth — dan daß mans in Rom vom
Ausrufer hörte — dan daß man es im Kalender sah — endlich daß
es
auf der Uhr steht. Jedes Jahrhundert vermehrt nur die
Gegenstände
der Begierde und vermindert eben dadurch die
Mittel, dies[elbe] zu
befriedigen, und die Kraft, sie zu besiegen. — Wie legt sich das
Schiksal bald mit Jahrszeiten bald mit Heeren zwischen uns
beide.
Ich wil in Sachen des Vergnügens kein Versprechen
geben, weil man
sonst die Freiheit eines augenbliklichen
Entschlusses verscherzt. Er
solte seine Entschlüsse wie alle, die leicht schnelle fassen,
auf der Stelle
realisieren müssen, um entweder die Langsamkeit derselben oder ihr
Halten zu lernen. Die jezigen Staaten zwingen den Menschen,
zu
sündigen, wie die alten zwangen, gut zu handeln. Mit dem
Mauth-,
Zensur-,
symb[olischen] Bücherwesen getrau’
[ich] mir der Hölle so
viel dicke Betrüger und Lügner zu liefern
als sie verlangt. Jezt giebts
gegen die isolierte Aufklärung,
die fortschreitet ohne die Erwärmung
der Brust, kein Mittel
weiter als die — Fortsezung dieser Aufklärung.
Unsre Zeit kömt
mir wie himmelblaue Tage vor, in denen von einer
Stunde zur
andern das Wetterglas bis zu Sturm fält ohne Ver
änderung des Himmels — Wie sehr ich mich auf den Schwung
brettern und Springstäben der Kritik
bewege und wie wenig blos mit
den anerschafnen Schwingen der
Psyche — Er [Otto] fürchtet das
Kniestük (von ihm) in Ihrer Phantasie — Auf Ihren hellen
blumigen
und warmen Sommer folge ein stiller blauer Herbst
in Frucht
guirlanden gewickelt. — ich
verdank’ ihm den Contour des Edens.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_372.html)