Von Jean Paul an Barbara Juliane Freifrau von Krüdener. Hof, 22. August 1796.
Brieftext
Die Stunde, worin ich Sie hörte, fliesset wie ein Abendroth immer
weiter unter den Horizont, Ihr Brief mus ihr wieder Farbe
geben.
Sie kamen wie ein Traum, Sie flohen wie ein Traum und
ich lebe
noch in einem Traum. Saturnin
[sagt,] die Engel hätten Menschen
geschaffen wie Gott, hätten sie aber nicht in die Höhe richten
können,
bis Gott durch einen Funken sie beseelte und
aufstelte. Solche liegende
Menschen sind die meisten — Gott
schlug in wenige einen Funken, der
sie aufrichtet. In Ihrer
Seele glüht dieser Sonnenfunke und Ihr
innerer Mensch
steht unter den liegenden kalten Gestalten aufrecht und
sein
weiter Blik geniesset zugleich den Himmel und die Erde. Grosse
Tugenden sind in irdischen Augen Fehler, wie die Fluren des Mondes
sich uns in der Ferne als Flecken darstellen. — Der Glaube an
Ver
nichtung — diese Seelen Guillottine und
Füssilade. Ich wolte, heute
wäre der 1 Januar, damit
mein Herz sich in gerechtf[ertigte]
Wünsche
für Ihres
auflös[ete]. Aber jeder Tag ist für mich
ein erster Januar
und alles was in die laue Nacht dieses
flatternden Lebens Mondlicht
und Violenblüten wirft und alles
was ins einfärbige Grün auf dem
stehenden Wasser unsers
Daseins einzelne Blumen flicht etc.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_384.html)