Von Jean Paul an Johann Friedrich von Meyer (Meier). Hof, 17. Dezember 1796.

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Brieftext

Kopie
[ Hof, 17. Dez. 1796 ]

Ihr Körper und Ihre Sprache kan nur ein Schleier aber keine Larve
Ihres Herzens sein. Ihr Brief war ein Morgen, eine Jugend, ein
Frühling, eine gestirnte Sommernacht für mich. — Es ist ein ge
wöhnlicher Hang und Wahn des Jünglings und Menschen, sich und
seinen Lebenslauf — seine Wünsche — seine Hölle und seinen Himmel
für einzig, für Naturspiel und Idiotismus des Schiksals zu halten. Es
ist aber nicht wahr: wir sind alle ähnlicher und verwandter als wir
meinen. Ich finde mich überal unter den Menschen wieder, nur mit
andern Biegungen der Form: ich finde überal opfernde, so lang ich
Kinder und Eltern und Gatten sehe. Den Menschen fehlen selten
Herzen, nur Augen: im Tempel ihrer Brust steht der lodernde Altar,
aber der Gott fehlt ihm. Ach wie werden wir alle einmal erstaunen,
daß [?] wir uns nicht genug geliebt und geachtet haben. — Keine
Gegenwart — selber für den Atheisten — ist erträglich ohne eine
Zukunft (nur daß er sie diesseits der Bahre sucht). Aber diese [Un
genügsamkeit?] gilt nicht der Erde sondern der Endlichkeit und selbst im
2ten Leben werden wir nach aller Möglichkeit unsrer Natur nicht anders
seelig werden als durch die Perspektive einer 3ten. Meine Blätter sind
in Ihnen wie die der ind[ianischen] Feige wenn man sie säet, zu
Bäumen geworden. Dein Kummer und dein Himmel ist dein Werth
und dein Bürge. Jahr, das Infinitesimalth[eilgen] der Lebens Terze.
Es gehe deiner schönen Seele wohl, aber sie sei nicht blos schön, auch
froh, sie finde nicht blos den Aether, sie suche auch die Wolke und die
Erde.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K: An M. d. 17 D.

Vgl. Nr. 492 u. 505†. Johann Friedrich von Meyer (1772—1849), dersog. „Bibel-Meyer“, später Bürgermeister seiner Vaterstadt Frankfurt a. M.,damals in Wetzlar juristisch und literarisch tätig, Mitarbeiter an WielandsMerkur, Verf. eines Romans „Kallias“ (1794), hatte nach Lesung derUnsichtbaren Loge durch Vermittlung seines Freundes Friedrich von Oertelim höchsten Enthusiasmus an Jean Paul geschrieben. Der nicht erhalteneBrief war wahrscheinlich nur mit M. unterzeichnet; Jean Paul wird aber von Oertel den Namen erfahren haben. Nach Jean Pauls Tode wandtesich Meyer in einem Brief vom 21. Januar 1826 (Berlin JP) an die Witwemit der Bitte um Unterdrückung und Vernichtung jenes Briefes. 280, 19ff.Vgl. I. Abt., V, 446,12ff.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_483.html)