Von Jean Paul an Johann Friedrich von Meyer (Meier). Hof, 7. Januar 97.

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Brieftext

Hof d. 7 Jenn. 97.

Ich habe unserm Simultan-Freunde Oertel sehr zu danken, daß er
Sie zu dem meinigen gemacht: seine und Ihre Blätter machten mich
zu dem Ihrigen. Aber Ihr schönes Feuer, lieber M[eyer], Ihre
Lebenswärme und jedes Freudenfeuer wird ja auf diese Weise Kalzinier
feuer für Sie; und der Genus, der sonst nach Herder immer das
Objekt zerreibt, zerrüttet hier das Subjekt. Lesen Sie wenigstens
meinen Hesperus, worin noch mehr Brenstof und Schwefelminen
als in den Mumien sind, nur nach Kapiteln oder Hundsposttagen, und
eine physische Nacht kühle stets wie in der heissen Zone meinen mora
lischen Kanikularposttag ab.


Die Einäscherung und Skelettierung der fleischernen Welt fanden
Sie in meinem Buche — beschrieben: ich sah leider der Zertrümmerung
in einem innern Novembertage zu. Bei Gott! was ich ertrage und
benüze, wenn die starre und eckige Wirklichkeit es vor die Seele führt,
mus noch leichter zu ertragen und zu benüzen sein in den blossen
poetischen Reflexen. Das Gerippe des Todes hat eine Sonne in der
Hand, und leuchtet die höhere Welt an, und auf unsere fält ein falber
Schein — nur auf den schneidenden Elbogen dieses Skelets wird man
über die Schmerzen und Gräber der Erde, obwohl nicht über ihre
Freuden erhoben. Das Gefühl unserer Flucht gewährt uns einen
eisernen Muth, ein sanftes Freuen, ein höheres Lieben, einen ewigen
Trost, eine Erhabenheit über das ganze Schach der Erde und dessen
hölzerne Schachfiguren.

Meine Antwort auf Ihre über die platonische Liebe hat nur in
einem Buche Plaz; doch verzeihen Sie diese: der Urgenius macht
überal den Körper zur schmuzigen Stufe des geistigen Tempels, der
Hunger ist das körperliche Hebezeug des geistigen Klimax, das Be
dürfnis ist der Köder der Wahrheit, der 6 te Sin ist die Loherde des
himlischen — — daher kömt leider die Umkehrung und der Anti
klimax. Im Ganzen glaub’ ich, die physische Liebe reibt den Schmetter
lingsflügel der höhern ab; aber bei edlern Menschen wird die höhere
zur höchsten Freundschaft, von der es ausser der Ehe kein Beispiel giebt.


Leben Sie immer, immer wohl!

Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K: Meyer in Wezlar 7 J. * J: Iris (Unterhaltungsblatt, Frankf. a. M.),9. Dez. 1825, Nr. 244. i: Wahrheit 5,196. 287, 14 der Gedankenstrichfehlt K 16 benüze] so K, benutze J 17 benüzen] so K, benutzen J den ...Reflexen] vielleicht der ... Reflexion K 22 uns] so K, fehlt J 29 des] so K, der J (Jean Paul gebraucht Klimax immer männlich, vgl. Bd. I, Nr. 363, 327, 2 ) 31 kömt] so K, kommt J der] so K, die J

Vgl. Nr. 483†. Der kurz nach Jean Pauls Tode erschienene Druck desBriefs in der Iris enthält ein längeres Vorwort (wiederabgedr. Jean-PaulBlätter, 13. Jg., 1938, Nr. 2, S. 37), das offenbar von Meyer selbst herrührt und den Eindruck, den seinerzeit die Unsichtbare Loge auf ihngemacht hatte, folgendermaßen schildert: „Reinheit des Gemüts mit einer hundertäugigen Einbildungskraft verbunden, gaben diesen Mumienein treffliches Gepräge. Aber die Zerrissenheit des Ganzen, das kein Ganzeswerden wollte, die Formlosigkeit einer bald holden, zarten und erhabenen,bald gräßlichen und harten, mitunter auch matten Erscheinung griffenunsern Leser an, der zwar Spaß verstand, aber auch den Tristram Shandynicht recht zu Ende lesen konnte und bei Jean Paul mehr als bloßenScherz, vielmehr abwechselnde Nachtstücke fand, die sein noch junges,verwundetes Herz erschütterten und ihn von Jean Pauls Schriften einengefährlichen Nervenreiz für die krankhaft gewordene Welt befürchtenließen. Jean Paul schien ihm das Leben zur gänzlichen Trostlosigkeit zuskelettieren und unter andern die Liebe durch Überspannung zu zernichten ...“ — Oertel schreibt im Brief an J. P. IV. Abt., II, Nr. 182 (20. März 1797):„... Meyer hat mich jetzt sehr gekränkt durch einen höchst erbärmlichenund ganz nackt dargelegten kleinlichen Egoismus. In seiner Antwort aufdeinen und meinen Brief klagt er auf’s Neue über die Konvulsionen, diedu ihm machtest, wie es des Schriftstellers Pflicht sei, seine Leser glücklicher zu machen u. s. w. (worin er denn Wielanden hoch rühmte), undsetzte endlich hinzu, du schienest keine allzu hohe Meinung von ihm zuhaben ...“ 287, 15 Novembertag: die Todesvision vom 15. Nov. 1790;vgl. Bd. I, zu Nr. 347.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_505.html)