Von Jean Paul an Caroline Liebmann. Bayreuth, Mitte September 1797.
Brieftext
Aus meinem Tag- und Abendbuch oder Stambuch der hiesigen
Lebensspiele zieh’ ich kein Blat für Sie heraus als eines, worauf ein
Landschaftsgemälde ist — Ich nenn’ ihn — es giebt 2erlei
Aurickeln —
die gepuderte, mich die ungepuderte. Schwarzach wird von
einer
ital[ienischen] oder
otah[eitischen] oder paradiesischen oder
himlischen
Gegend eingefasset. In einer solchen ruhenden Ebene, die ein
Ruheplaz
der Wünsche ist, über die sich eine Fruchtschnur
aus schweren vol
geladenen Gipfeln als ein
Gürtel der Berge, schwankend zieht und
worauf Dörfer und
Gärten einträchtig zusammen wohnen und wo die
Nähe zur
Ferne einlädt und diese zu jener gehört, in einem solchen
grünen Tanzplaz froher Wünsche theilt das Herz vol Liebe gern alle
seine unsichtbaren Gestalten unter die holden Pläze aus — die
er
wärmte Seele geht mit ihr verwandten
dort auf die hellen Berge und
hin am tiefgrünen Ufer — und
unter jeden Baum wird ein befreun
detes Herz geführt und überal aus allen blauen Himmelsecken und über
alle blühende Pfade kommen auferstandene Träume der Jugend
her
und beschenken uns mit Hofnungen und das gestilte und
bereicherte
Auge braucht nun nichts mehr als blos sich —
abzutroknen. Die
Flügel Ihres Innern tragen Sie in immer
reinere Höhen, aber das
Auge richte sich gegen die Erde
wie die Flügel gegen den Himmel. Wie
der Unendliche seine
Ewigkeit und Unermeslichkeit und sein Ich be
schauet und doch die Sorge und Liebe der kleinen Erde vol
Gewürm
nicht vergisset: so ahm’ ihm der kleine Mensch nach
und er samle in
seinem Herzen zugleich den Glanz der 2ten Welt und die Landkarte der
ersten und vergesse über die Sonne den Fusboden nicht.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_699.html)