Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, vor dem 11. Oktober 1780.

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Brieftext

[ Hof, vor 11. Okt. 1780 ]

Ach die wenigen Zeilen haben mir Thränen verursacht, mir — der
wenig Freud’ hat; denn wo wäre sie? — und der auch diese einigen
bald missen mus. Wenn ich vielleicht weg bin: so seh’ zu Nachts zu
deinen Gängen in den Garten hin, wenn sie der Volmond beschim
mert — und denke dan d’ran — wie wir ienseits hinüber über das be
leuchtete Wasser blikten — wie eine freundschaftliche Thräne dem
Aug’ entdrang — zum Alvater hinauf — — Ach! die Tage der
Kindheit sind hin — die Tage des Schülers bei beiden auch bald vol
endet — bald’s ganze Leben — — Hier kamst du und unterbrachst mich;
ich las das Papier, das du mir gegeben hast; und nun kan ich nicht
mehr schreiben — — fliesset Thränen. — —


Doch noch was. — Lauter Sterbegedanken umgeben mich iezt —
vielleicht dich auch; und dies ist beste Zubereitung. — — Nun schim
merst ruhiger Mond! senkest Ruhe in gequälte Seelen — Schauerlich
ist’s, unter Mondsblinkern, al die harmlosen, nachbarlichen Hügel —
bei’n Gräbern wandelnd — zu spähn! Schauerlich wenn’s so todenleise
um dich her ist, und’s dich ergreift das grosse alumspannende Gefühl —
edel ist’s, nächtlich die Gräber der süsschlummernden Freunde zu be
suchen — und ach! den betrauern, den nun der Wurm zernagt. — Lese
in Yorik’s Reisen im 1ten Theil das, wo er beim Grabe des Mönchs
war. — —


Von diesem Geschriebenen rede mit mir ia kein Wort — schreiben
kanst allenfals. — —

Dein Freund Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

J: Wahrheit 3,62. 1, 5 seh’] sieh’(in diesen Jahren gebraucht Richter stets die schwache Imperativform, s. 84, 20, 98, 18, 145, 22) 16 senkest bis 21 zernagt.] in Anführungsstrichen, wohl versehentlich, denn es handelt sich sicher nicht um ein Zitat 22 Lese] Lies (vgl. 84, 13.29, 269, 25, 362, 28, 397, 37 ). Vielleicht schrieb Jean Paul Les, wie Bd. II, 4 ,24 .

Über Johann Adam Lorenz von Oerthel, geb. 17. April 1763 in Hof, gest. 13. Okt. 1786 in Töpen, den älteren Sohn des Kammerrats von Oerthel (s. Nr. 86†), seit 19. Sept. 1775 Schüler des Hofer Gymnasiums (Weißmann Nr. 5735), das er erst einige Zeit nach Richter verließ, vgl. meinen Aufsatz „Ein Liebesroman aus Jean Pauls Jugendzeit“, Zeitschr. f. Bücherfreunde, N. F. VI (1914/15), 86—93. Richter erhielt seine Briefe an diesen seinen ersten Intimus vermutlich nach dessen frühem Tode zurück, wohl im Austausch gegen Oerthels Antworten, von denen nur geringe Reste erhalten sind, z. T. Konzepte, die vielleicht unter Richters Briefen lagen. Den Drucken in Wahrheit Bd. 3 und Nachlaß 2,265—327 liegen streckenweise die Kopien zugrunde, die aber von den Originalbriefen nur wenig abweichen. — Dieses älteste, leider handschriftlich nicht erhaltene Blatt, anscheinend der Schluß eines Briefes, ist offenbar nicht lange vor Richters Abgang vom Gymnasium (11. Okt. 1780; Oerthel blieb noch etwas länger) geschrieben und neben dem im Januar 1781 entstandenen Briefroman „Abelard und Heloise“ (II. Abt., I, 105—154) das einzige Zeugnis einer frühen, kurzen, durch den Umgang mit dem kränklich-empfindsamen, schwärmerisch-verliebten Freunde wie auch durch literarische Vorbilder (Werther, Siegwart, Yorick) genährten Sentimentalitätsperiode. 1, 6 Oerthel wohnte in Hof in einem idyllisch an der Saale gelegenen Gartenhaus, wo die Freunde abends oft miteinander geschwärmt hatten. 18 todenleise: Jean Pauls erste Wortschöpfung; vgl. II. Abt., I, 145, 30.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_1.html)