Von Jean Paul an Carl August Werner. Leipzig, 15. September 1781.
Brieftext
Kaum traut’ ich meinen Augen, da ich Ihren lieben Brief empfieng.
Ich glaubte nicht, daß Sie ie mer an mich schreiben würden, da
Sie so
lange nicht geschrieben hatten; nur Ihr Brief selbst sagte
mir, daß die
Entfernung des Orts mir noch nicht ganz Ihre Liebe,
Ihr Andenken
entrissen habe. Sie werden’s
wenig[stens] sonst empfunden haben,
wenn Sie’s gleich iezt nicht mer fülten, wie angenem iede
Nachricht,
iede Zeile, von denen ist, die man in seinem
Vater[lande] zurük
gelassen hat, wie
[man] iede auch unbedeutende Sache
[?] von ihnen
mit
warmem Herzen aufnimt, und wie die kleinste Gewonheit
[?] uns
mit süssem
Vergnügen erfült, da sie an die grossen Freuden wieder
erinnert.
Sie werden mir es also vergeben, wenn ich
[mit] Ungedult auf
Ihren Brief hofte; Sie werden mir aber glauben, wenn ich sage, daß
ich ihn mit grossem Vergnügen empfangen habe. Erst Ihre
Erlaubnis
must’ ich haben, um anstat den Titel, den Ihnen meine
Ererbietung
schuldig ist, den zu sezzen, welchen mir mein Herz
sagt. Auf der ersten
Seite waren Sie so gut, Sachen zu
schreiben, die mich schmeichelten,
wenn ich — eitel wäre.
[Nie] werd’ ich Höhen zu ersteigen
suchen, die
für mich zu steil sind, und die vielleicht
mir wenig helfen würden, wenn
ich sie würde erstiegen haben.
Wissen Sie nicht, daß auf hohen Bergen
die Luft zu dün ist, als
daß ein gewönliches Erdengeschöpf da atmen
könte? — Sie
verstehen mich. Doch ich kenn’ Ihr Herz und Ihren Ver
stand zu gut, als daß ich diese.... für etwas anders als
liebreiche An
spornung zum Fleis, und
klug gewältes Gegenmittel gegen die Träg
heit ansehen solte.
Ich möchte Ihnen so viel schreiben, als ich iezt im Kopf habe; aber
das hätte für viele Bögen nicht Raum genug. Ich wil also kurz
sein.
Auch noch iezt ist meine Vermutung wegen des exspectari noch nicht
widerlegt;
sie ist bestärkt worden. Ich habe hier noch keine Informazion,
keinen Tisch, keine Bekantschaft mit Studenten, noch gar nichts. Es ist
eben nicht ganz leicht, Zutrit bei den Professoren zu erhalten.
Die
ienigen, die eigentlich berümt sind,
und deren Liebe mir nötig genug
wäre, sind von einem Haufen
Geschäfte umringt, von einer Menge
von andern vornemen
[?] Personen …, von einem Schwarm
niederer
Schmeichler umlagert, daß ieder den nicht sein Kleid
und sein Stand
empfielt, nur erst mit Mühe ihr Bekanter wird.
Und geradezu [?] mit
einem Professor sprechen wollen, der kein Stipendium, oder Tisch etc. zu
vergeben hat, hiesse wol sich dem Verdacht der Eitelkeit
aussezzen.
Bedenk’ ich noch die Menge von armen
Studenten, die sich [durch den]
Hunger auf ihrem Gesicht so leicht
[?] verraten, die Menge von
schlechten Studenten, die den menschlichen
[?] Professor hintergehen,
und ihn gegen die bessern hart machen, so kan ich mir das ganze
Phänomen erklären.
Demun[geachtet] geben Sie Ihre Hofnung
nicht
auf; ich werd’ alle diese Schwierigkeiten überwinden, ich
kan [?] sie
zum Teil;
allein ich brauch’ es auch nicht. Hier komm’ ich auf das
Räthsel, dessen Auflösung Sie so begierig erwarteten, und welches ich
meiner M[ama] nur
dunkel angegeben. Allein iezt ist’s eben so wenig
noch aufgelöst; nur soviel
[?] kan ich Ihnen sagen, daß es weder
ein
Stipendium, noch einen Tisch, noch eine Informazion, noch
sonst
davon etwas betrift. Es betrift etwas, daß
[!] Sie gar nicht ver
muten, daß
[!] ich Ihnen noch nicht sagen kan, bis
der Ausgang meiner
Erwartung entspricht. Soviel davon. —
Sonst bin ich noch wolauf. Die leipziger Luft behagt mir, die Stad
gefält mir auch mer, und die Gegend wird mir angenemer;
besonders
seitdem
[ich] gewisse Gärten habe kennen lernen.
Sie werden Sich es [!]
noch erinnern an die Orte, wo das Auge und die Zunge so
reizend
befriedigt wird. — Aber wissen Sie was mich eigentlich zum
Fleis
antreibt? — Grade das, was Sie in Ihrem Briefe gesagt —
meine
Mama. Ich bin ihr’s schuldig, einen Teil ihres Lebens zu
versüssen,
da sie den andern so elend hingebracht hat; und ihr den
Verlust, den sie
durch den Tod meines Vaters erlitten,
durch meine Hülfe [zu] mindern;
es ist meine Pflicht, etwas zum Glük meiner Brüder beizutragen
—
Wäre dies nicht, so würden meine Studien anders sein, ich würde
nur
das bearbeiten, was mir gefiele, für was ich Kräfte fülte;
wäre dies
nicht, so würd’ ich nie in meinem Leben ein —
öffentliches Amt an
nemen. Das komt
Ihnen vielleicht wunderbar vor; allein kenten Sie
die ganze
[?] Verfassung, in die mich meine Lag’
in der Welt, die Be
schaffenheit
[?] meiner Sele, die sonderbaren Gänge
meines Schik
sals gesezt haben, so würd’
Ihnen das vernünftig vorkommen. Aber
nichts ist mir unangenemer
als die Nachricht von der Faulheit meiner
Brüder. Ich
weis kein andres Mittel als Ihre Schärfe. Tun Sie’s, ich
bitte Sie, und lassen Sie ihnen die Strafe ihrer Faulheit hart,
oft
überheftig [?]
fülen. Es ist besser, wenn sie sich über eine Ungerech
tigkeit zu beklagen
[haben], die an ihrem Bukel ausgeübt
wird, als über
eine Ungerechtigkeit, die sie an ihrem eignen
Glük ausüben. Aber noch
ein Mittel! Ich wolte meinen
Brüdern alle Monate etwas Geld schikken,
um sie zum Fleis
anzureizen; unter der Bedingung, wenn sie ein kleines
Testimonium Diligenziä von Ihnen hätten. Das brauchen zwei Zeilen
zu sein. Vielleicht hilft dies; und Sie, Sie werden diese Mühe über sich
nemen, und ihnen es auch iezt sagen, … Es müst’ aber so
eingerichtet
sein, daß sie’s selbst nicht verstünden; denn sonst
wären sie klug genug,
mir’s nicht zu schikken. — Nichts bedaur’
ich mer, als die Unbequemlich
keiten,
die Ihnen Ihr Gichtflus schon wieder verursacht hat. — Und
Sie
sind noch immer frei? und wollen das Mittelding zwischen Man
und
Jung[ge]sel noch bis an ihr Ende sein?
Was hat Ihnen doch der
Got Hymen getan, daß Sie ihm so aufeinmal
alle Vererung aufsagen,
seinen Altar umstossen und zu einem Abgötler werden. Wir leben
kurze
Zeit; allein eben deswegen sollen wir diese
kurze Zeit recht frölich leben
— — dum loquimur, fugerit invida
aetas; carpe diem, quam minimum credulus postero,
möcht ich Sie mit dem Horaz anreden. — Der Doktor Ernesti ist
[den]
15 September begraben worden. Er wird sich wol beim Zizero im
Himmel Stunden in Latein geben lassen. Jezt modert sein
römischer
Kopf, seine lateinischen Phrasen und sein ganzes Behältnis von
alter
Gelersamkeit im Grabe. Sein Rum flattert über sein Grab
hin; er
hört ihn nicht mer; so zerstäubt der Schlag des Todes den
ganzen
Plunder von unsern Torheiten. Dies fält mir oft so warm
auf’s Herz,
daß ich nichts lernen möchte, als worauf ich
in der andern Welt fort
bauen kan; daß ich
nichts tun möchte, als die Taten, die im Himmel
Früchte für
mich tragen. Genug! Ich ermüde Sie; ich schliesse, und sage
nichts mer, als daß ich Ihre neuliche Krankheit an Ihrem Arm herzlich
bedaure, daß ich Ihnen Befreiung von diesem Uebel
[?] wünsche.
Küssen Sie mein liebes Patgen an meiner Stat tausendmal, und
schreiben Sie mir doch, was es macht, ob es gesund ist und ob
seine
Sele mit dem Körper wächst. Und Sie — o! ich sag’ Ihnen
tausend
Dank für Ihren schönen Brief, tausend Dank für die
Liebe, die Sie in
dem[selben] gegen mich äussern. Aber
ich wünschte, Dank nicht blos
sagen zu können; ich wünschte mer. Und für das, was ich Ihnen
in
Rüksicht der Bildung meines Verstandes und Herzens schuldig
bin, für
das, was nie ein Schüler seinem Lerer bezalen kan? —
Hier kan ich
nichts, als eine Träne der Dankbarkeit weinen,
einen Wunsch zum
Algütigen schikken, und innigst versichern —
Sie sehen, ich schreibe meine Brief’ an Sie viel anders, als ich sie an
iede andre Person schreibe; überal nimt man eine kleine Maske
an; überal schminkt man sich wenigstens ein bisgen: aber bei Ihnen tu’ ich
das nicht, ich [zeige]
mich Ihnen wie ich bin, Sie kennen meine Feler,
und ich gebe mir
keine Mühe, sie Ihnen zu verhelen. Darum werden
Sie auch meine
Brief’ an Sie niemand sehen lassen; denn man ver
lacht oft den, der aufrichtig genug ist, sein Herz auf
Unkosten seines
Verstandes reden zu lassen — es giebt
Leute, die ieden für einen Toren
halten, der nicht leichtsinnig
ist wie sie. Ich mus Ihnen noch etwas
sagen, was ich gewis nicht
aus Schmeichelei sage. Ihr Brief ist in
einer modernen
Schreibart geschrieben; Sie haben Sich sogleich nach
dem Verf.
der Menschenfreuden gebildet, und in Ihrem Brief neue
Wendungen, Konstrukzionen, Wörter, und Beredsamkeit und
kurze
Säzze verbunden. Tun Sie gewissen Personen den Tort und
zeigen Sie
Ihnen, daß auch Sie
neu[es] Deutsch schreiben können.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_12.html)