Von Jean Paul an Christian Otto. Ohne Ort, 26. März 1793 bis 27. März 1793.
Brieftext
Mein lieber Christian,
Der historische Kunstrichter ist dadurch vom ästhetischen verschieden,
daß er fast das muß machen können was er schäzen wil; und
bei ihm
ist Tadeln und Bessermachen eins.
Diese Bemerkung ist das Kreditiv und das Vokazionsschreiben, das
ich aufzeige, wenn ich mich als beseztes Quartalgericht über
deinen
Aufsaz hier niederseze.
Das Gericht hat einige fast blos grammatikalische Noten beigelegt
und wird hier noch einige machen. Die Sachnoten bestehen in
einem
Quadrat am Rande (der bekanten Chiffre der
Freimäuerer), welches
so viel bedeutet: „es hat mir recht sehr gefallen.“
— — Der Amtsverwalter war jezt 1½ Stunden in meiner Gerichts
stube. — —
Ich wil mich einmal ganz wider meine Gewohnheit gar nichts um
wahre Ordnung scheeren — —
Brüte dein punctum saliens bald zu einem ordentlichen Feder-
Thier aus. Denn da jezt auf jedem Halse ein Kopf mit
Regierungs
Parallelismen
steht: so könte dir einer zwar nicht mit der Vergleichung
oder mit dem Stofe derselben aber doch mit dem Stofe zum Verdachte
vorlaufen, daß er dich — auf alles gebracht. Es ist ohnehin
schon schlim
daß ein Spizbube, der sich der ersten
gallischen Hälfte meines Namens
bedient, zu Ostern 94 einige Winke über das Terzianfieber
der Welt
Revoluzion geben wird, bei denen
die Welt, wenn du spät nachgewan
delt
komst, recht leicht merken wird, wer eigentlich das Plagiat be
gangen.
— Mach dir vorher einen Bauriß und zeige mir ihn; und theil’
alles in Kapitel ab. Mache Digressionen, aber nicht parterre in
Noten sondern oben — im Grunde muß jede Hauptmaterie für
einen
Autor nur das Vehikel und das Pillensilber und der
Katheder sein, um
darin über alles andre zu reden. —
— An der Revoluzion des Christenthums must du wenigstens ihre
Unähnlichkeit mit den 3 andern aufklären und bestimmen. So
die
des Muhammedismus. Wäre das Christenthum in die
republikanische
Blüte Roms gefallen: so hätt’ es seine Aeste und Wurzeln
nicht weiter
herumgetrieben als bei uns der Hernhutismus; aber Roms
Heiden
thum war durch frühere Hände gefället
als christliche, durch monar
chische.
—
— Deine apokalyptischen Träume, womit dein Aufsaz wie die
Bibel entschlummert, unterscheiden sich von Wahrheiten in
nichts
als in der Zeit; aber der Unterschied ist um einige Jahre
grösser als
du denkst. Denn nur wenn Europa Ein geprestes,
abgefressenes Gallien
wäre: dan müste sich dieser Riesengeist aufrichten von
seiner über den
ganzen Welttheil reichenden
Lagerstätte. Aber jezt da uns nicht das
selbe gemeinschaftliche Bedürfnis — Druk — Wunsch — und Geist
wie bei den 2 andern Revoluzionen emporspornt, da muß noch
weit
mehr Licht unter unsere Hirnschalen und weit mehr
Tortur-Schwefel
tropfen an unser Herz
geworfen werden: eh sich die liegende Welt er
mant. Auf den reinen Höhen der Begeisterung sieht man wie
auf den
Alpen wegen der unbesudelten Luft alles näher an
sich geschoben. Gleich
wol erwärmt es einen in diesen
Frost-Tagen der Kleinigkeiten, wo
unsere ganze
Freiheitsfahne in einem Federkiel besteht, auf einen Mai
des
Menschengeschlechts vorauszublicken der es nicht glüklich macht; —
denn wer ists; und werden sie es mehr sein als ich und du? —
sondern
besser und der uns von der Sonnenbahn, in der wir um
die Ewigkeit
laufen, einen grössern Bogen zeigt als
wir jezt kennen, wenn wir stat
der Hofnungen Aussichten
begehren. Deine zwei lezten Lagen ergriffen
meine ganze
Seele zum zweitenmale und nichts zieht mich aus meinem
zu
oft zurükkehrenden Gefühle der Vergänglichkeit und der Kleinlichkeit
dieses Menschen Thuns als die Aussicht einer wichtigern
Zukunft, der
Gedanke an ein verschleiertes Auge
über uns und die Freude über den
Menschen, der mir diese
Aussicht zeigt oder erneuert — Du kanst dein
Buch nicht
höher schliessen als mit dem Enthusiasmus, der vom
„Triumphgefolge“ bis zu Ende dauert.
„Die Ausbildung der Seele ist mit Verschönerung des Körpers
„verbunden, befödert sie, ist ihr behülflich etc.“ solte man nie
sagen: denn es ist
wider die Kürze und wider das Interesse zugleich, den
Hauptgedanken (Verschönerung) zum Gefolg und Attribut eines ganz
unsinlichen ausgeleerten (verbunden,
befödert) zu machen, da man
sogleich besser
sagte: die gebildete Seele verschönert den Körper. Im
Verbo
muß alzeit das Prädikat liegen. Die Engländer und Deutschen
haben aber diesen Fehler sich aus dem Studium der
klassischen Römer,
besonders Zizeros angewöhnt. z. B. Warum sagst du „Der
Enthusias
„mus (der Christen), der auf einmal die
Christen belebte, beföderte
„die Ausbildung der angelegten Verbindungen und die Aus
„führung der unternommenen Thaten“ stat „der neue
Enthusiasmus
„bildete ihre Verbindungen und Unternehmungen
aus.“
Für die Feiertage, wo wir Zeit haben werden, bring ich meine
deutsche Sprachkonkordanz und Hevristik mit und wir reden mehr
darüber.
Den Erasmus, dessen sanfter Geist dem des Melanchthons so
ähnlich sieht wie Feigheit der Bescheidenheit, kont’ ich von
jeher so
wenig goutieren als er Fische; weder sein Gesicht
noch seinen Spas
noch sein tausendseitiges schillerndes
Leben. Er war ein Museums-Raz;
und da diese Thiere alzeit
vor einem Erdbeben aus den Häusern laufen:
so wolt’ er
seiner Stube wegen kein Erdbeben. Alles was er hier an
räth, war ja eben vor Luther alles geschehen; wie bei uns
die ähnlichen
Kabinetspredigten gegen die Fürsten; aber da sie die ihrem
Stande
eigne Unverschämtheit besizen, Thorheiten und
Ungerechtigkeiten zu
gleicher Zeit zu begehen und
einzusehen: so bringt sie kein Licht, so
wenig wie
den Papst, sondern nur das Schütteln von ihren Thron
gipfeln herab. — Leb wol und mache mir die doppelte aus
der Gabe
und aus dem Geber zusammengesezte Freude
öfter.
recht weiß, wer regiert: so nehm ich lieber das Passivum oder den
Singular.
ihre Spekulazionen und ihre Handlungen waren durch die Mauern
der Hörsääle von einander abgetrent; endlich traten sie wie zwei
Ströme, über den Weg der Überschwemmungen und in Katarakten
zu Einem ruhigen [See] zusammen.
gorie besser als das Gleichnis, weil jene kürzer und lebhafter und
dieses nur ein Behelf für deutsche Leser ist, denen man in der Regel
nicht über 6 Bogen aus dem Zeitungslexikon zutrauen darf.
Substantiv regieren, gefunden habe, oder 2 Substantiva für 1 Ver
bum. Z. B. ich sage nicht: „man muß das Frauenzimmer mit ge
bognem Rücken ehren, aber nicht das Knie vor ihm beugen“ —
Sondern: „man muß vor ihm den Rücken, aber nicht die Knie beugen“.
Die Scholastiker thaten im Ernste (wie Kant in andrer Rüksicht)
was Bayle aus Satire that: sie demonstrierten die sogenante natür
liche Religion weg, um die geschriebne aufzustellen; sie bewiesen den
Atheismus, um ihn aus der Bibel zu widerlegen, aus der man (wie
jezt wieder) den ersten Beweis des götlichen Daseins zog.
dieser Akte zu rechtfertigen, müssen auch für die verbesserte gelten.
So gut der König das Volk (seine Krone) abdanken kan, so gut dieses ihn.
nahmen die Lombarden 20 proc., oft 30 — im 14ten sezte Philip der
Schöne die Zinsen auf 20 pr. herab — im 15ten gab man in Placentia
40 proc.“ Seine Anmerkungen must du wieder zu bekommen suchen.
die dan den Leser in einem rathenden Schwanken lassen: so würd’ ich
jenes gleich zuerst stellen, ob gleich jeder sonst diese Erleichterung seiner
Leser versäumt.
sophieren“ vielleicht passender.
Spinozismus und Jakob Böhismus; aber warum antizipiert der
Schwärmer? — Eine Ursache ist, daß blos Phantasie erfindet (im
Metaphysiker so gut wie im Dichter; und der Unterschied liegt nur im
Gegenstand und Gebrauch des Funds) und daß der Mensch zwar über
die Anspannung, in der erfunden wird, gebieten könne, aber nicht über
die Erfolge dieser Anspannung. Man kan sich blos die Lage zu erfinden,
geben; aber die Ausbeute nicht weissagen und nicht erzwingen und nicht
beabsichtigen. Und doch liegt dieser Kraft ein regelnder Mechanismus
zum Grunde.
sondern nur einigen Separatisten zu danken.
als Noten gemacht)
im „Triumphgefolge“; du kanst doch hintennach die Nachbarschaft
des ça ira, deus lo vult, und unser Gott ist eine feste Burg etc. noch
erklären oder beweisen. Falle nicht wie der Deutsche oder Herman oder
Zizero in Bestimmungen, die der Leser leicht ersezt oder entbehrt. z. B.
warum hier „Gefahren vergessen und den Tod verachten — den
„gesunknen Muth am Rande der grösten Verzweiflung beleben.“
Denn sonst, wenn dem Leser keine Bestimmungen aufgehoben werden,
müstest du noch sagen „die Gefahren des Lebens, des Reichthums, der
„Bequemlichkeit, des Körpers vergessen“ nach dem quis quomodo
quid etc. Die lezten 2 Bogen aber sind mit der Kürze deines schon
gedrukten Aufsazes gemacht, die dir in [die] Feder alzeit ungerufen
kommen wird, wenn du vorher in Seneka oder Rousseau liesest.
annimt, wenn es vom Referent A erzählt wird als wenn B erzählt, daß
er es von A gehört.
8. Ich habe dich glaub’ ich schon einmal angefahren daß du zu gern
Substantiva aus Verbis machst.
Dein boshaftester litterarischer Denunziant wird deine Sünden nicht
mit grösserer Begierde aufstöbern als ich, aber er wird dir
sie mit ganz
andrer Höflichkeit als ich, ja ich hoffe mit
soviel Streuzucker sagen als
du mir meine.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_418.html)