Von Jean Paul an Christoph Otto. Hof, 5. November 1793.

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Brieftext

Hof. d. 5 Nov. 93 [Dienstag].

Sie haben mich nie beleidigt — Sie haben mir bisher nichts er
wiesen als Gefälligkeiten — Sie haben mir nur ein einzigesmal Un
recht gethan, (aber Ihrem Herzen noch mehr,) und das ist jezt: daher
kan ich Sie unmöglich der Folter Ihres Irthums und Ihres Argwohns
überlassen. Ich bin mir und einer Person wie Sie sind, deren Karakter
und Talente und Verwandschaft ich so ehre, die Erklärung schuldig, die
Sie hätten errathen sollen: daß Ihre jezigen Auslegungen durchaus
falsch sind — daß Sie meinem Karakter zu wenig Recht wiederfahren
lassen, wenn Sie mir die Genügsamkeit mit einer Person zutrauen, die
schon in fremden Verhältnissen steht — daß Sie auf eine nur durch
einen langen Argwohn begreifliche Weise eine der unschuldigsten

Freiheiten misverstanden, die Sie sich sonst tausendmal nahmen, die
jeder von uns sich bei jeder nehmen kan und die jedem Freunde sogar am
Traualtare verstattet wäre — und daß Ihr Argwohn nicht weniger
als drei Personen auf einmal beleidigt und daß Sie meinen Ab
sichten und Ihren Verdiensten gleich sehr Unrecht thun. — —

Lieber Otto, es ist nichts mislicher als in solchen Fällen nur den
Anfangsbuchstaben zu machen: gleichwol mach’ ich einen ganzen
Brief, weil es mir wehe thut, daß Sie, der Sie schon so oft mein
Vertheidiger waren, mich für Ihren Feind ansähen. Bei Gott, ich liebe
und verehre Sie — troz Ihrer kalten Entfernung und troz Ihrem von
mir zum Theil errathenen Argwohn — tausendmal mehr als Sie
voraussezen und ich bin froh, wenn ich nur niemand verkenne, ohne
mich zu ärgern, wenn andre — auf diesem morschen tollen Erden
theater bei einer so blendenden falschen Illuminazion — mich ver
kennen. Sie sind der ersten Ausnahme werth: daher versichere ich Sie
noch einmal — bei meiner Ehre, bei meinem Gewissen und bei allem
was Sie und ich für heilig halten — daß Sie die edelste uneigennüzigste
Freundschaft mit etwas eigennüzigerem verwechseln.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 2½ S. 4°. J: Nerrlich Nr. 8. 406,2 sogar] nachtr.

Vielleicht nicht abgeschickt, da im Nachlaß Jean Pauls erhalten. Vgl. den folgenden Brief.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_446.html)