Von Jean Paul an Renate Wirth. Hof, 1. Dezember 1793.
Brieftext
Meine liebe gute Renate!
Wie gern schreib’ ich diesen Namen und diese Anrede! — Und doch
ists leichter, Sie zu lieben als zu entschuldigen — ich kan Sie ver
klagen, und doch nicht vergessen. — Liebe
Freundin, warum trauen Sie
mir eine Unbeständigkeit zu, — blos
weil Sie mir das Beispiel davon
gaben?
Ich habe bisher nichts gethan als was Sie in Ihrem vorvorigen
Briefe begehrten. Aber Sie hätten es nicht begehren sollen — Sie
hätten alles mir überlassen sollen — unsere Unschuld hatte
keine Maske
und keine Trennung nöthig — o Sie waren nicht
stark genug, da
Sie bei so einem kleinen Anlasse, bei
einer so bald zerrinnenden Ge
witterwolke
einer Freundschaft entsagten, zu deren Verwechslung mit
etwas
anderem ja die Entsagung am ersten berechtigte! — Sezen Sie
mich an Ihre Stelle: hätten Sie mir esvergeben, Sie irgend jemand blos
zu meinem Vortheil aufgeopfert zu
haben? — Liebe! Sie waren zu —
furchtsam: giebt es denn keinen dreisten edeln Muth, der sich
dem
Schiksale Preis giebt und der sagt: „verkennet mich, ich
darf doch nicht
anders handeln.“ — Sogar bei Ihrer Frau Mutter
gaben Sie meinem
Gehorsam gegen Ihren Willen den Schein der Launenhaftigkeit.
—
Daher — da ich mich weder zu Masken einer unschuldigen Freund
schaft noch zu Ruinen einer zerrütteten
bequemen konte — besucht’ ich
das Konzert nicht, bis ich die
Kälte dieses Monaths in meinen
Innerem
[!] befestigt hatte — daher wandt’ ich
lieber mein Auge ab
von der geliebten Gestalt, deren Augen mich
mit dem Abrisse einer
seeligen Vergangenheit zu sehr erweicht
hätten — daher hatt’ ich den
Kampf mit allen meinen
Erinnerungen und war froh über meinen Sieg
— daher macht ich
mein Herz eisern und sagte zu mir: „gewöhne dich
an ihre
Entfernung, alles ist vorüber, die ewige Freundschaft ist
untergesunken und wir kennen uns nimmer“ — —
Nein, Renate, seit heute kennen wir uns wieder, nichts ist vorüber —
kom wieder an mein in wehmüthigen Erinnerungen zerrinnendes
Herz —
geliebte Freundin, ich fasse jezt auf ewig deine Hand,
sei fester, zieh sie
nicht mehr aus meiner und so einander
umfassend sinken wir durch das
Morgenroth des Lebens und durch
die kalte Nachtwolke des Todes —
Gute gute Renate, Sie haben einen zu weichen Freund, aber keinen
veränderlichen, keinen vergeslichen — Und so leben Sie wol — im
nächsten Konzert sprechen und sehen wir uns so unverhült
wie sonst.
Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_447.html)