Von Jean Paul an Charlotte (Pseud. Lydie) Schütz. Bayreuth, 21. Februar 1816.
Brieftext
Welche Schuld hätt’ ich durch mein Zögern auf mich geladen,
wenn Sie mir nicht selber durch das Ihrige im Briefe vom 15ten
März das Muster oder die Entschuldigung gegeben
hätten, und wenn
zweitens durch die größere Pünktlichkeit
noch ein Abdruck für die
Ostermesse buchhändlerisch möglich gewesen wäre — Für die
Michaelismesse hingegen ist noch reichliche Zeit übrig, sogar bei
Verstärkung des Werkes. —
Mit Freude und Schmerz bin ich Ihnen in Ihre Zeiten des kind
lichen Flors zurück gefolgt, ein ohne
Wortspiel doppelsinniger Flor,
der der Blüte und der andere
Flor, womit Gärtner oft seltne Blumen
bedecken, damit keine
Insekten gemeinen Blumenstaub auf sie
tragen. —
Am meisten bewundere ich Ihre — gewiß für Ihr späteres Glück
zu übermächtige — Kraft der Reflexion, die sogar durch das dicke
Dunkel der ersten Jahre dringt. Hier ist Ihr Buch völlig dem
Leben
Anton Reisers (Moriz) ähnlich, und eben so nützlich.
Eine solche
misverstandene Kindheit ist das beste Predigtbuch für den
Erzieher.
Freilich jedes Kind wird anders misverstanden und verzogen und
zerzogen; aber Ihre Geschichte weckt und schärft überhaupt den Sinn
für die Kinderherzen, was so nöthig ist und selten; denn man
fühlt sich
leichter voraus und hinauf als zurück und hinab;
die Knospe fühlt
sich der Blume näher als dem Blatte. — Ihre
Darstellung selber ist
— einige grammatische
Dintenflecken abgerechnet — rein, klar und
ergreifend und die Geschichte erfreuet mit allem Interesse
eines
Romans. — Vor Ihren spätern Jahren, besonders denen
der Liebe,
fürchtet man sich ordentlich; Ihr Leben muß ein
tropisches geworden
sein, voll Tages Brand und Nachtfrost.
Nur Ihre Reflexion wird
zuweilen Ihre Leiden
erleuchtet haben. Ein erhellter Schmerz aber
wird ein
begränzter; nur die Nacht ist unendlich. — Gleichwol
sollten
Sie nicht fragen: „was hätte ich alles werden können?“
Jeder
Mensch ohne Ausnahme kann diese Frage thun, sogar ein so
viel
gewordner wie Goethe, wie Ihnen sein Leben beweiset. Im
gewöhnlichen Menschen liegen schon so viele und weit
umher wach
sende Kräfte, geschweige im
ungewöhnlichen, daß zum Vollwuchs
aller Zweige und Aufbruch
aller Blüten und Reifen aller Früchte
ein ganzes Menschenall
und alle vier Jahrzeiten für ihn besonders
eingerichtet sich
um ihn stellen müßten. —
An Ihrer Erzählung wünscht’ ich nichts geändert, nur an Ihren
Noten die Zahl derselben, da diese so trefflich sind. —
Der Vorreden muß ein Autor nicht zu viele machen. Jedes Jahr
schlage ich einige ab. Statt einer Vorrede zu Ihrem Werkchen will
ich sogleich nach dessen Erscheinung im Morgenblatt ein Lob
dessel
ben geben, was es noch schneller
in Umlauf bringt, und von welchem
Sie bei Ihrem Verleger im
Voraus Gebrauch machen können.
Seit Jahren antworte ich keinen Unbenannten, weil ihr Vortheil
über mich wirklich zu stark ist, da sie in der Nacht heraussehen auf
mich im Tage und ich ins Blaue und Dunkle hinein antworten
soll.
Gleichwol hab’ ich Ihnen mit offnem Herzen
geantwortet, weil das
Ihrige, und Ihr Geist und Ihr Zweck
mich zur Hingebung begeister
ten. Leben
Sie wol. Möge ich bald mehr von Ihnen lesen. Gedruckt
oder
geschrieben.
Jean Paul Fr. Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/VII_158.html)