Von Jean Paul an Johann Ernst Wagner. Bayreuth, 19. Januar 1811 bis 25. Januar 1811.
Brieftext
Heute am Tage der Rückkehr meiner Frau aus Berlin schreib’
ich endlich was ich hundertmal gedacht, nämlich meinen
Dank und
meine Freude Sie betreffend. Ihr Fibelschütz
steht im Zeichen des
Schützens, dem Apollo die Pfeile gibt; und mit solcher
Indivi
dualität schießt man nicht
fehl. Ich wollte, Ihr Wörterbuch wäre
so dick als das
Adelungsche; auch wäre freilich die Dicke die einzige
Aehnlichkeit, die es mit ihm hätte, so wie Sie selber die
mit Ihrem
Werkchen; sonst übrigens muß der Seelige bei
Ihnen betteln und
beten und fluchen zugleich.
Unbeschreiblich hat mich Ihr Werkchen recht aus dem Herzen
und dem — Wald und Feld, wie Sie so oft gebahren — ergötzt; und
ich habe jede Derbheit des Worts oder der Anekdote nicht
sowol ver
ziehen als genossen. Sie sind
mir ein rechter Wald-, Berg-, Ebenen-,
Auen- und sonstiger
Mensch. — Ach bleiben Sie nur über der Erde!
Gott weiß, was ich noch wußte und Ihnen zu schreiben gedachte. —
Ganz treffen wir in der Kindheitfreude an Johannisbeeren,
Pfeifen
und Vogelfang zusammen. Dem Leser Ihres
Büchleins thut eben
das Besondere, ja Individuelle der
Darstellungen so wol, eben weil
im Bestimmtesten
zugleich das Allgemeine liegt, aber nicht um
gekehrt in diesem jenes. Und es gehört eben Muth und Blick
und
Kraft dazu, das Individuelle an und in sich nur zu
fassen, geschweige
zu geben.
Ehe Sie Ihren „Jesus von Nazareth“ malen, lesen Sie ja vorher
alle „christliche Schriften“ Herders durch, für
mich der 13te Apostel.
Mir ist in der Kirchengeschichte noch kein Geist
vorgekommen, der
so ätherisch und so fromm und so leicht
und so weit sich breitend
und so innig in sich gehend, den
großen Christus-Geist in sich auf
genommen hätte, als eben der Herder,
dessen Antlitz nun ohne den
hebenden Geist verfällt in der Kirche, die ich nie
betreten werde;
denn ein vor Kurzem Gestorbner ruft zu mächtig uns seine
Unsterb
lichkeit zu, als daß wir die
Ruinen der Bekanntschaft sehen, und zu
schmerzhaftern
machen möchten.
Heut ist Pauli Bekehrung, d. h. auch meine; denn ich schicke
endlich diesen Brief ab. Meine Herzensgrüße an alles was
Heim
heißt! Es gehe Ihrer schönen lichten Seele wol in der
verfinsterten
Zeit!
J. P. Fr. Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/VI_447.html)