Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 21. September 1798.

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Brieftext

L[eipzig] d. 21. Sept. 98.

Lieber Otto! Nicht du, sondern ich habe Entschuldigung nöthig,
weil du die Schmerzen zugleich theilen und mittheilen must. — Vor
gestern an einem himmelblauen Tag, woran ich eine seit Jahren ge
suchte, meinen Titan um die ½ verbessernde Aufgabe lösete und den
ich arkadisch auf dem Lande bei einer Freundin zubrachte, sagt’ ich zu
dieser meine alte Prophezeiung; und gestern als ich den 1ten Theil des
Titans abends beschlossen hatte, kam dein Brief. Gräslich wie ein
böser Genius trit mir jezt dieses Wesen nach. Ergrimt und erschüttert
las ich die Mishandlung der Todten — es ist eine unbeschreibliche Kälte
und Frechheit im Brief an Gotlieb.

Sie scheint mir aber eine Freiheit des Geistes zu beweisen, die nicht
zur schlimsten Lage passet. Natürlich hast du im Ganzen recht; aber
warum wartete er bei einer in 4 Wochen erfressenen Schuld von
80 fl. erst auf neuen Verlust? Wahrscheinlich ist er zugleich mit seinen
hinhaltenden Briefen — abgegangen. Wie ich sol für eine Zukunft, für
künftige Meinige gar nichts sparen, ewig mich anstrengen, und mir
versagen, damit er schwelge? — Er hat mir, da er sich eine Uhr gekauft
worauf er 3 Car. (auf der andern Seite steht 2) bekam, mithin mehr
mitgenommen als 200 rtl. — Ich finde viele Unwahrscheinlichkeiten
und Widersprüche. Er könte ja eben mit dem Kaufman sich verabredet
haben. Lies, frankiere und siegle den Brief. Du kanst es sagen wem du
wilst. Nim aber sonst keinen handelnden Antheil daran. Ich bin fest zu
dem bestimt, was ich ihm hier schreibe.

Aus deinem Schweigen schlos ich dein Verreisen.

R.

Schicke den Brief kurz vor Abgang der Post hin, weil er sonst ge
lesen wird.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 4 S. 4°. B: IV. Abt., III.1, Nr. 81. A: IV. Abt., III.1, Nr. 83. 99,31 Wahrscheinlich] aus Warlich 100,2 damit] aus daß

Otto erhielt den Brief am 25. Sept. Er hatte von Gottlieb Richter zweiBriefe Samuels vom 10. Sept. aus Frankfurt a. M. erhalten und an JeanPaul geschickt. Der eine war an Gottlieb gerichtet, der andere trug dieAufschrift „meiner lieben Mutter“! Samuel bat darin um Geld zur Bezahlung von Schulden an einen Frankfurter Kaufmann (Böhm, s. Nr. 137)und zur Rückkehr. Otto hatte dazu die Vermutung geäußert, Samuel habeseinen Gläubiger damit vertröstet, daß seine Verwandten, darunter auchseine Mutter, für ihn zahlen würden, und ihm, um ihn davon zu überzeugen,jene Briefe gewiesen und zur Bestellung auf die Post gegeben. Otto hattesich dabei entschuldigt, daß er Richters liebevolle Briefe mit so unangenehmen Nachrichten vergelte; er wolle eventuell durch Herold inFrankfurt Erkundigungen einziehen lassen, habe diesem aber ohneRichters Genehmigung bisher nichts sagen mögen. 99, 21 Titan: vgl.I. Abt., VIII, Einl. S. LVf. 22 Freundin: Frau Hänel, s. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1,Nr. 80. 100, 9 Verreisen: nach Bayreuth, wohin Otto aber erst EndeSeptember reiste. 11f. Jean Paul fürchtet die Neugier des PostmeistersWirth, vgl. Bd. I, Nr. 170, 210,33 und 278,14, oben zu Nr. 74.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_130.html)