Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 28. November 1797 bis 29. November 1797.
Brieftext
Lieber Otto! Dein Brief gab mir zwar stosweise kleine Schauer,
aber es ist gut, daß du mir das ganze Gewebe deiner
Irthümer zum
Zerreissen vorgelegt: mögest du dir
künftig keine Fäden mehr weben,
die in dich einschneiden.
Wie hast du mich misverstanden, obwohl
immer aus Liebe! Mir
thut nichts in deinem Briefe weh als dein
Schmerz.
Ich wil jezt jeden Einwand gegen mich in deinem Brief
durchgehen
zum Zugeben oder zum Widerlegen:
dieses Mittel giebt doch der an
dringenden Fülle meines Innern einen geraden Weg.
„R. schien mir angegriffen von Ruhm nicht ganz Er selbst geblieben
„zu sein etc.“ Ich dachte oft, manche werden das
voraussezen und es
eben deswegen — sehen: ich
betheuer[e] dir, mein Inneres konte
durch
alle die Lorbeerbäume nicht um 1 Zol höher gehoben
werden als es
vor den „Mumien“ war. Das fremde Urtheil
betrügt mich leichter
durch unmässigen Tadel als durch unmässiges Lob. Ich habe
eine
Demuth in mir, die niemand erräth und die kein Sieg
sondern eine
Nothwendigkeit ist, weil ich meinen Fleis
〈Hevristik etc.〉 von meinen
Kräften abzusondern weis. Gegen
die Köhl[er],
gegen Renate, gegen
dein Haus war ich wie immer; aber dan, wenn merkantilische
ver
achtende geldachtende egoistische Höfer
dazu kamen, dan stand nicht
mein intellektueller Mensch, den allein das Publikum zu
sehr loben kan,
sondern mein moralischer auf, der
Fremde und Höfer verglich und der
es noch dazu nie
vergessen kan, wie man mich sonst (und immer)
behandelte
und wie man meine gequälte Mutter verlies. Bedenke daß
der Troz (einer, den ich in der Armuth noch mehr hatte) nur gegen
Trozige kam, meistens
gegen die H[erold]’s, nie nie gegen dich
und die
Deinigen.
„Abends sucht’ Er und ich ein Gespräch“ und weiter unten „wir suchten
„peinlich nach Gesprächen — schien sich herabzulassen —
nahm poli
„tischen Stof, fragte nach
Frieden und nahm meinen.“ Dieser Argwohn
wäre mir
fürchterlich gewesen, wenn ich ihn errathen hätte und ich
wäre lieber stum oder abwesend geblieben. Bei dir fühlt’
ich gerade
allemal jene phantasierende Freiheit, zu
sprechen — und über alles —
und über gar nichts: ich kan
dir nicht sagen, wie wohl und wie an
gestrengt und lebhaft — das schliesset aber die Pein des Suchens und
der Langweile aus — ich von dir gieng. Ich armer
Unschuldiger komme
mir jezt bedauernswerth in meinem
stillen Frohsein vor. Nach Frieden
fragt’ ich, weil
[ich] ungern und mit zu vielen Qualen
Zeitungen las
— und weil deine Meinung mir richtiger war
als meine — und weil
es für meine Seele (und für meine
Zurüknahme der Vergötterung der
für mich kaum Menschen-gewordnen Franzosen) keine höhere Frage
gab. Die Politik oder die Geschichte wendet immer
eine neue Seite
vor; und ist reichhaltiger als jede
Materie. Unsere Schwarzenbach[er]
Gespräche hatten den Reiz doppelter ausgewechselter
Nouvellen; auch
den meiner 8tägigen Entfernung. Du kanst
leicht über meine, aber ich
so wenig über deine Werke
reden. Dein politisches Urtheil, nicht
meines war
immer das einzige U., das ich glaubte. Auch glaubt’ ich
nie, daß die Freundschaft unterhalten müste; und Schweigen ist nur
als Zeichen des Herzens zu meiden. — (Ich kan bei der
Menge der
Sachen kein Wort weder auf die Wage deines
Argwohns noch der
Sprache legen).
„Meistens wars eine Bemerkung über das menschliche Gemüth etc.“
und nun deine Beschreibung, wie du vergeblich ihre
Bestätigung in
deinen Erfahrungen suchtest etc. Davon
errieth [ich] nichts, sonst hätt’
ichs nie gethan: ich drang lebhaft oft auf dein Ja, weil
meines auch
daran hieng. Vom obigen Herablassen hat mein
Herz wie mein Ver
stand keinen Sin, nie
einen Gedanken: ach wie kont’ ich mir eine solche
Vorstellung von mir vorstellen? Ach ja wohl war die körperliche Tren
nung ein Glük und Bund bei einem
solchen ewigen schneidenden und
ungeheuer fortwachsenden
Argwohn! — oder doch stat der Trennung
ein Brief wie
deiner.
„Wie die Walfahrter nach dem gelobten Lande etc.“ o welche harte
Verdrehung des Ergusses der Liebe und Pflicht!
„Das Verbergen des Abschieds“ etc. Das begreifst du nicht? Ich
weis nicht, ob du von der
fürchterl[ichen] zerstörenden
Empfindlichkeit,
die die Anstrengungen der Phantasie
zurüklassen, und von ihrer
2fachen Äusserung genug weist.
Was ich sehe und nicht denke, ertrag
ich kalt und wärs ein
Gestorbner. Wenn aber die Gestalt aus dem Auge
in
die Phantasie rükt, die die Schlüssel meines Herzens hat: dan wird
mir die Erweichung so zerreissend, daß ich mit Leichtsin
stat alles
Trostes blos suche, nicht daran zu denken. Ich
müst[e] hier Bogen
schreiben. Früher liebt’ ich den Sturm des Gefühls — weil
er eben
mehr ein Zephyr war — aber jezt nicht so sehr, weil
er so viel abbricht.
Ich frage nach wenig in der
Welt viel mehr, die ich ausgekostet; und
also auch nach dem
Schmerz weniger als nach den körperlichen Folgen
desselben:
und doch ertrüg’ ich jenen gern (denn ganz bitter ist er nie,
sondern die Liebe darin macht ihn süs) aber ich versag’ es
mir wenn er
andern schadet. Ich erlaubte mir nie (nämlich
zulezt) diesen tragischen
Genus bei Car[oline]
(früher that ichs bei andern, jezt hat mich mein
Titan aufgehelt); und jeden Abend wich ich ihren Rührungen
scherz
haft aus, die ich sonst so gern
vermehrte. So stieg am lezten Sontag
(am Tauftag oben bei
dir) eine ganze Welt vol Thränen in mir auf,
als ich dich anschauete (und ich konte daher dich zulezt
nie mehr lange
ansehen) — und ich sah an deinen
Minen ähnliche Gedanken — ich
erstikte sie und gieng lieber
fort. Ich tadle jezt sogar an dir (und an
deinen
Freundinnen) das, was du mir sonst in Leipzig zu wenig zu
haben schienest, daß du dich am Ende zu weich für einen
freien Genus
des Lebens machst.
Von den alten Geselschaften foderte ich blos die Nachsicht in den
neuen — weiter nichts; aber diese gaben mir die Höfer nicht
immer.
„Er glaubte weil er alles erriethe etc.!“ Ich glaubte es nie, weil ich
weis, daß ich wegen meiner Phantasie gar nichts anfangs
richtig sehe
und also das erstemal alle Dinge, Menschen,
Gegenden, Bücher,
Musik, etc. zu gut finde.
„Er hielt mich für eitler als ich war und ich war es am meisten
„gegen ihn etc.“ Das ist sehr eitel und hart; aber ich fand
diese Eitelkeit
nie gegen mich bei dir und ich verstehe
dich auch nicht ganz: ich war
mit allem bei dir zufrieden
und dachte, du seiest es auch. Ich denke bei
niemand, den
ich liebe, daran, noch achtzugeben im Taumel der Liebe
—
ich sehe nichts — ich scheine nichts — und freue mich blos. Wo ich
dich der Eitelkeit sehr schuldig fand und dir einen
erkälteten Brief
schrieb, war da du in Bayreuth
warest.
„Ach es ist viel vergangen und es wird noch mehr vergehen.“ Jeder
Glockenschlag ist für mich das Leichengeläute der
sterbenden Emp
findungen, aber auch das
Kindtaufsgeläute der neuen. Ach die
20jährigen
Freundschaftsgefühle, die 20jährigen Entzückungen der
Liebe
sind hinunter und kommen in keinem irdischen Morgen
herauf;
aber wie alte Sterne untergehen, so gehen neue
herauf. Keine Emp
findung bleibt
dieselbe; aber was über ihr geboren wird, ist schöner
und
das neue Herz ist blos oft unglüklicher, aber nicht kälter als das
alte. Darüber kan man nur ein Buch schreiben. Es ist nichts
verblüht;
der wachsende Sprösling wirft im Herbst seine
Blätter ab, und später
einmal seine jungen Blüten, aber
endlich steht er doch erst in vol
endeten: der Mensch hat viele Frühlinge und keinen Winter.
Warum ich dir so wenig zulezt von meinen Fatis erzählte? — Ach
wie kindlich-unschuldig steh ich hier vor mir! — weil mich
die ewige
Wiederkehr meines Ichs ekelte — weil ich immer
nur von meinen
Briefen und von meinen Räuchermeistern zu
sagen hatte — weil ich
täglich die individuellen Züge
schlechter merke und ich dir ungern eine
Geschichte gebe
die aussieht wie ein Abstraktum — weil ich der Sache
immer gewohnter wurde — und am meisten, weil ich nicht dachte, daß
du es erwartetest.
Meine Briefe — und am meisten dieser — sind so, weil ich sonst,
von Satiren abgehezt, mich über eine warme Stelle 〈über ein
Sprach
gitter für mein Herz〉 freuete
— weil ich sonst so viele Ausstattung an
einen Brief an den
Pfarrer Vogel wandte als jezt an ein Buch — weil
mich das ewige Arbeiten, Fühlen und Anstrengen zerrüttet —
weil das
eine zerstörende Lage ist, die du gar nicht
kenst, da du mehr im litte
rarischen
Geniessen lebst als ich — weil ich so viel zu erzählen habe,
daß ich nicht kurz genug sein kan, die Menge der Briefe noch ab
gerechnet — Eine Anmerkung, die du über
eine blos scherzhafte in
meinem lezten Briefe machst, kan
ich dir nicht beantworten sondern
blos vergeben. —
Dein Fehler ist ein immerwährendes Beobachten und
ein
(obwohl scharfsinniges) Addieren kleiner Wahrscheinlichkeiten und
Zufälligkeiten, das dich ewig bei Menschen, die ihren
eignen Schein
nicht abwägen, irre führen mus: und noch
fahr’ ich in meiner sorglosen
Freiheit der arglosen Seele
fort. Ich errieth wohl in dir ein Resultat
deiner
Schluskette, aber nicht diese und suchte die Schuld in meinen
andern Fehlern.
Ich las deinen und diesen Brief wieder, meiner ist mir nicht be
friedigend; in deinem sind viele
treffende Bemerkungen und eine Liebe,
die ich nie
vergesse, — obwohl gerade der Fehler, den du mir vorwirfst.
Nämlich auf dich allein hat mein neues Verhältnis mit
dem Publikum
gewirkt. Auch hätten wir beide keine Irthümer
begangen, hätt’ ich
dich nirgends gefunden als unter den
geliebtesten Deinigen. — Ich wil
noch einiges nachholen. — Bei Gott nie mengt’ ich dich
unter die
andern: mein Gefühl für dich ist einzig
und gehört keinem Menschen
weiter an. Oft wenn ich mich
nach meinen Höfer Freundinnen unter
der Musik sehne: so kommen sie alle aufeinmal — in Hof
immer nur
eine, gerade die, die an der Regierung war,
wiewohl zulezt auch nicht
so — und ich mus sie mit einem
sonderbaren Gefühl immer aufeinmal
anschauen und
liebhaben. Aber du tritst ganz allein vor mein Herz und
mir
ist wie im neulichen Traume, wo mich Renate ganz veraltet und
dein Christoph zum kranken Albrecht mit geschwollenen
Lippen führte
und endlich du kamest und ich vor Freude laut weinend an
dich fiel und
aufwachte und fortfuhr. — Aber wo ich Euch
sagte, warf ich dir ähn
liche
Urtheile mit A[möne]
vor und Hinneigung auf meine Kosten zu den
H[erolds], das
wars.
Nur im Bedürfnis sol ich schreiben? Ich habe immer eines, aber
keine Zeit; und wenn jenes am stärksten ist, schreib’ ich
lieber nicht
sondern phantasiere auf dem Klavier: denn das
Schreiben mehrt die
Sehnsucht, aber dieses drükt sie
stillend aus.
„Verblühte Gefühle?“ Ach jedes Jahr wuchs und veredelte sich
meine Liebe zu dir (troz des neuen Fehlers, den ich fand) und ich wolte,
du wärest auch so glüklich gewesen. Und wenn der Frühling
mich
wieder in den blühenden Zirkel der Liebe stelt: so
werden wir beide
— zumal da die alten störenden
Verhältnisse in lauter wohlwollende
übergegangen sind —
zwar keine vorige Freude und Liebe wieder
finden, aber eine — höhere, grössere, himlische. Ach ich
gab gern die
Vergangenheit für diese Zukunft hin.
— Gleichwohl hast du oft Recht und ich fehle oft ohne es zu wissen.
Auch liegen andere Gründe deines Misverständnisses in mir:
ich habe
mehr Fehler als du weist. Bisher hab ich dir nur
eine negative Wider
legung und Zugabe
und Antwort geliefert; aber zur positiven gehört
wieder ein
Buch. Wie sonderbar mein innerer Mensch seit einem Jahre
ist, erräth[st] du nicht. Es sei
genug! Und hier geb ich dir wieder meine
Hand und
sage: vergieb mir, denn ich habe dir nichts zu vergeben,
vergis deine Schmerzen und bleibe bei mir ewig wie ich bei dir! —
Neuigkeiten wolt ich dir viel schreiben; aber nun ist keine Zeit mehr
dazu. Man hat hier für litterarische Musse so viel Achtung,
daß ich
weniger gestört werde als in Hof. Von vielen Leuten
werd ich dir ein
mal schreiben. Ich war bei
Platnern — bin in einer Familie, wo eine
volendet gebildete Frau (das sonderbarste Ebenbild deiner
Mutter in
Physiog[nomie]
und Gestalt) und 2 schöne ungewöhnliche Töchter
sind, wo ich einen Professor Herman, M. Klodius, Platners Tochter,
und viele ausgezeichnete junge Leute finde — Melzer ist
auch hier —
Berlepsch komt in 14 Tagen — etc. — 1 rtl. Lesegeld
giebst du für
5 Bücher ¼jährig! 2000 Bücher sind gewöhnlich ausser Haus.
—
Denkt Seifert an meinen Bettüberzug? — So viel solst
du für mich
auszahlen, das für den alten Zeugmacher Herman 〈2 leichte
Gulden〉,
die Leinwand, die Schreibtafel: ich bitte dich herzlich,
schreibe jedes
Porto, nicht blos das von 40 kr. sondern auch Groschen
auf. Mit 80
oder 90 Ld’or denk ich
hier jährlich zu reichen. —
Zu Ostern kommen 2 Bändgen von mir: satirische Palingenesien
(der algemeine Titel der Samlung), der besondere dieser 2
Bändgen
ist: Jean Paul’s Fata
und Werke vor und in Nürnberg. Von den
Teufelspapieren
kommen kaum 6 umgearbeitete verstreute Bogen
darin vor. Ich kenne nun Nürnberg wie Hof und habe eine
Stadtkarte
davon, denn hier kan ich alle Hülfsmittel (wenn ich über
etwas schreibe)
um mich herumlegen. — Dein Rath an Emanuel ist völlig gut. —
Wiedman gehört nichts. — Ich habe dir noch 100 Dinge zu
antworten
und 1000 zu berichten. Ich bin ununterbrochen und
ungewöhnlich
gesund und arbeitsam zugleich.
Lebe wohl!
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_16.html)