Von Jean Paul an Johann Gottfried von Herder. Weimar, 12. Mai 1799.
Brieftext
So war ich denn heute am Tage der Ausgiessung des h. Geistes
immer bei Ihnen, entweder unter dem Kirchen- oder meinem
Dache,
und meine ganze Seele dankt Ihnen, Verehrtester.
Ueber alles schön
ist das fünfte Gespräch — und Ihre
Darstellung des Begrifs von Gott
— und Ihre reine
Demonstrazion desselben aus dem Dasein einer
Vernunft — und
Ihre Anmerkung über die Persönlichkeit oder die
über die
Materie, die man eben so gut, nämlich eben so irrig durch Zeit
als durch Raum beschreiben könte — und endlich Ihr edles Schonen
Jacobis.
Inzwischen hab’ ich in den meisten folgenden Anmerkungen gegen
Sie durchaus Recht; denn sie betreffen den — Sezer oder dessen
Vortheil, nämlich Schreibfehler.
— S. 190. Die Schreibtafel komt mir entbehrlich und zugleich
schwerfällig vor, da man nie in Gesprächen einander nachschreibt,
— ausgenommen bei Ihnen Böttiger in seine innere tabula rasa für
die Weltkunde.
S. 231. Theanos Frage fiel mir schon vor vielen Jahren auf. Sie
sind ein durch und durch heiliger Autor wie vielleicht keiner
und der
niedrigste Lüstling vergisset in Ihrer Athmosphäre
den Doppelsin. Die
Frage macht erst aufmerksam, und noch dazu
ist alles Kommende so
jungfräulich, daß sie fast prüde
scheint.
Weiter hab’ ich nichts zu bringen als dieses Infinitesimaltheilgen;
aber verschmähen Sie es nicht blos nicht, Geliebtester,
sondern ver
geben Sie es auch. Jede Zeile
und jedes Wort an Sie komt aus einer
Seele, die Sie liebt wie
sie noch keinen geliebt. — Ich wohnte in der
vorigen Woche
oft in Ihrer; ich las — weil ich im Frühling eigentlich
nach Hippokrene dürste — Ihre Volkslieder wieder, die mich immer
mit einer auflösenden Wehmuth erfüllen und überwältigen wie
weiter
kein Gedicht. —
Der Algütige führe Ihnen stets Ihr heutiges Thema zu, Freude!
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_262.html)