Von Jean Paul an Johann Gottfried von Herder. Weimar, 23. November 1798.
Brieftext
Verehrtester und Geliebtester! Empfangen Sie meinen kindlichsten
Dank für die ehrende Erlaubnis, neben der ersten
Leserin Ihr erster
Leser zu werden, und für das schöne Schauspiel, wie Phöbus,
in dessen
Hand man nur Lichtstrahlen, die Leier und Arzeneipflanzen
gewohnt
war, den Pfeil gegen den — kritischen Python nimt.
Über das Ganze
kan ich ausser dem, was ich mündlich gesagt, über die schöne
Vereini
gung der schärfsten
Dialektik mit der volsten und hellesten Sprache
— der
gelehrten Kentnisse mit den menschlichen — des Krieges mit
dem Frieden und der Vernunft mit der Sprache — und über den wohl
thätigen Anblik wie Sie das Schlachtfeld
wieder besäen oder wie
Lukul, neue Früchte aus dem besiegten
Lande mitbringen — über
alles das kan ich wenig sagen, weil ich ja kaum Zeit
genug zur Rolle des
Teufelsadvokaten erhalte. — Mög’ Ihnen am
Ziele Ihrer olympischen
Bahn ausser meinem Zuschauer-Urtheil
einmal auch das eines
Richters und dem Siege einmal eine ikonische Statue beschieden
sein! —
Hier sind meine Asterisken, die ich mit Furcht und einem Omen
— denn heute ist eine Mondsfinsternis — und ohne die
Hofnung
gebe, daß die meinige auch unsichtbar wie die
andere bleibe.
Der Strich über der Zahl zeigt die zweite Seite des Blattes an; und dieBuchstaben am Rande
des Blattes den Gegenstand der Anmerkung selber. Blat 3̄.a) Der Überschus in einer Erkentnis, die die Sinne nur
veranlasten, nicht gaben, mus doch
etwas anders und früher als
die Veranlassung, und mithin
ein a priori da sein; und mir scheint
die zweite Frage Kants nur die Antwort oder Fortsezung
nicht die
Wiederholung der ersten zu sein. — b) Auch die durch keine Er
fahrung mögliche Nothwendigkeit
der synthetischen mathe
matischen Säze
ist ein prius. „erkenn’ ich durch sich
an“ scheint
ein anderes Wort für a priori zu sein. — c) „Aus dem
Leeren
schliesset sich nichts“ aber das a priori (oder prius, oder erstes(?)
primum, welches alles 1 Sache ist) sagt Kant, ist ja
nichts Leeres,
sondern eben dein „inneres Datum“.
Bl. 4a) Auf dieser Seite ist das blosse
Versprechen der Widerlegung,
das weiterhin durch ihre
Erscheinung unnöthig wird.
Bl. 4̄.a) Mir scheint die unbezifferte
Reihe klarer.
Bl. 9a) „Fals es nicht seiner Natur nach
nothwendig ist“ Woran
erkenn ich diese
Natur-Nothwendigkeit als eben durch das a
priori?
Bl. 9ā) 4 = 2 + 2 ist eben nach dieser
Schule nicht identisch. Lieber
0 = a —
a.
Bl. 10a) Indes lassen Sie doch einige
mathematische als synthetisch
zu. „Erfahrung“ aber
kan sie nicht synthetisch machen, weil sie
die
Nothwendigkeit nicht geben kan; und bei den „höhern Grund
säzen“ komt immer, wenn sie nicht analytisch sind, die
Frage über
die Synthese wieder. — Im nächsten Saze „7 + 5
= 12“ scheint
auf Kants Beweise keine Rüksicht genommen zu
sein.
Bl. 10̅a) „diese
gleichsam
selbst sind“ Diese dunkeln Worte sind
entweder Kants Meinung (wie der Beisaz „in den Regeln
des
Verstandes“ bestätigt) oder sie können nicht gelten,
da die Mathe
matik eine grössere
Nothwendigkeit hat als die Erfahrung ver
leiht, weil jene ihre Beweise nie aus dieser führt, sondern umgekehrt
aus ihren Beweisen auf diese schliesset (Bl. 89 sagen Sie
dasselbe),
z. B. daß die Hyperbel und Assymptote
einander nie berühren,
welches in der Konstrukzion nicht
darzustellen ist.
b) Eben daß die Wirkung die Ursache voraussezt, ist die
Noth
wendigkeit der Synthese; denn
troz der innigen Verbindung ist
doch die Ursache
etwas anders als die Wirkung, das Wirkende
etwas anders
als das Gewirkte, so wie früher.
11a) Gegen diesen Absaz werden viele
Neins aufstehen oder gar Er
weise, daß
die kant. Meinung mit andern Worten behauptet werde.
12a) An der
Erfahrung werden die Vernunfts-Synthesen angewandt,
geübt, bewust; aber nicht durch
sie gegeben — wird man sagen.
17a) Im kritischen System, das die ganze
Sinnenwelt zum Geschöpf
der Kategorien und der Anschauung
a priori macht und das den
Raum in uns sezt, und mithin die ihn bewohnende
Sinnenwelt
auch, ist der widerlegte Saz konsequent.
19̅a) Der Elephant ist der Stunden- und
die Ephemere der Terzien
weiser; aber
wenn in einer Stunde der eine Weiser 1 mal, der
andere 60
mal herumgeht: so ists doch nur Eine Stunde, nur Eine
Zeit, obwohl in feinern oder gröbern Abschnitten; das Grössere
misset hier das Kleinere, das Jahrtausend alle
Lebenszeiten.
b) Fält das Veränderliche ausser
uns weg: so müssen wir doch
eine Zeit denken, weil wir
eines in uns zu zählen haben. Aber
gegen Kant ist der Saz nicht.
30̅a) Es scheint doch als wenn das
Bewustsein des Ichs unmittelbar
mit dem Bewustsein des
Nicht-Ichs sich verbände und beide ein
ander wechselseitig voraussezten. Zum Unterschiede des Andern
gehört schon der des Ichs.
37̅a) Hier fehlt das Wort „fremd“.
Einigemal fand ich nicht alles
ausgestrichen was es sein
solte.
44. 45. Vol der scharfsinnigsten Bemerkungen. Besonders die auf
der
46ten S. über
Analogie; so wie alle Ihre positiven Stellen
gleichsam bowling-greens im Sande der Palästra.
47̅a) Diese Konsequenz solte Ihr
gerecht-schonender Geist mildern
oder löschen. In der
angeführten Stelle zeigt uns unter der
realistischen Haut
blos der Idealismus seine Ohren, der die Natur
in sich
trägt und schaft.
54̅a) Doch, obwohl nicht aussen. Dadurch
daß wir selber wirken,
daß wir wollen und dan volbringen, wird uns in
eigner Erfahrung
Ursach’ und Wirkung gegeben, zu deren
Begrif uns freilich die
blosse Ahnenfolge der äussern Welt
nie verhälfe.
56̅a) Ich weis nicht, ob nicht jeder
Idealismus in der höchsten Konse
quenz
Egoismus werden mus. In der Sinnenwelt, die der Idealist
nicht findet sondern erschaft, ist die Körper Larve jedes
Ichs ja ein
Theil dieser Schöpfung unter der
Gehirnschaale; und der Idealist
kan also nicht zum andern,
d. h. zur Vorstellung sagen: „ich bin
dir eine“ aber wohl:
„du mir.“ — Das Folgende nimt den Idea
listen in einem andern Sinne und giebt darin eine reizende Wesen
kette.
56̅ [
vielmehr 65̅] a) Dem schönen
Spotte der vorigen Tafel scheint
diese Note (zumal bei der
Unschuld des Worts „transszend.“)
nicht ebenbürtig zu sein.
66̅a) Eben so scheint fast nach dem
komischen „Entwiklung aus
Quellen“ das „trok. Weg“
zu stark zu sein, man müste denn stat „ent
wickeln“ die chemische Metapher von trokner Scheidung
fortsezen.
69a) „Nozionen, die die Möglichkeit der
Erfahrung übersteigen“
Denn kan je der Unendliche, die
Ewigkeit, die Schöpfung etc. ein
Gegenstand der Erfahrung
werden?
74b) 75 etc. Antinomien scheinen hier
nur andern Kräften beigemessen
zu werden; dauern aber
fort. Der Phantasie kan man das Streben
in einen
unendlichen Raum etc. nicht mehr zuschreiben als das
Streben nach einem obersten Grunde alles Daseins oder das nach
der lezten Kausalität; welches Streben doch der Vernunft
gehört
und so jedes Streben nach dem
Unbedingten. Überhaupt wird diese
Darstellung viele
Antichristen wecken. — Bl. 76 Da wir troz der Na
turgeseze uns zuweilen frei- zuweilen
nicht freihandelnd fühlen; da
wir uns von dem Steine, der
sich auch nach Naturgesezen bewegt,
nicht im Grade sondern
in der Art verschieden empfinden und eine
Freiheit
annehmen müssen, die früher als die Naturgeseze war, weil
sie diese erschuf durch Gott: so scheint auch diese Antinomie wie die
vorigen wenigstens den Ihnen gewöhnlichen Zusaz des auf
gestelten Positiven zu bedürfen.
79a) Ich bekenn’ es, troz meines horror vacui —critici, dauert meine
Quaal über die Widersprüche und Fragen einer unendlichen und
doch anfangenden Zeit a parte
ante, über die Gränze der Gränzen,
ich meine über
die rund um mich aufgehangene Sonnenwelt und
über die Nacht
um diese etc. etc. etc. gleichwohl fort.
84a) Das Wort Ohren und Schweif
kontrastiert neben dem glänzenden
Ur-Wesen unserer
Hofnung.
85a) „objektive Realität in Raum und
Zeit“ ist nach der kritischen
Schule ja nur subjektive.
Zum Beweise führ ich die von Ihnen
selber angeführte
Stelle Blat 73̅ ganz oben, an. b) Schönheit,
Tugend ist aber nur an einem Wesen
und keines, und der Unend
liche ist
eines und an keinem. Wenigstens fält diese Gleichung
auf.
86̅a) fehlet nach wenn „nicht“.
89a) Kant sagt das nicht, so wenig als
man das Sehen sehen kan,
kont’ er sagen, daß man mit der (Zeit) Anschauung die
Seele
schaue, d. h. die Form mit derselben Form.
„Schaue ewig den Raum
„an, er wird dir so wenig Form der
Sinlichkeit werden etc.“ Aber
jener sol ja nichts
weiter <anders> sein als diese, und er sol ja nicht
Objekt, sondern Auge sein.
90a) Die Kantianer antworten, wir
fragten nicht was nüzt, sondern
was ist.
100a) Gleichwohl sind es keine
Interlokut- sondern Definitivfragen;
und kein Wesen
kan interessantere thun. Gegen den Scherz wie
gegen die
dreifache identische Antwort wird man vielerlei haben.
103a) Kant hält sich für
verabscheuungswerth, wenn er die sitlichen
Grundsäze
aufgäbe, (welches eine Handlung wäre) nicht aber, wenn
er
die metaphysischen verliesse, obgleich diese jenen dienen. — —
Der lezte Asteriskus wäre dieser: daß auf den strenggehaltenen, das
Buch und den Widerleger verwirrenden Idealismus, der seine
Wirbel
z. B. Bl. 73̅, 46, 59̅ etc. schwindelnd treibt,
mehr Geschüz zu richten
wäre.Auch
gegen die Antinomien und die orientierenden Postulate wünscht’ ichmehr gesagt, nach Ihrer grossen Manier. In Jakobi’s Realismus
stehen hinten die Stellen aus der
Kritik gesammelt — und Fichte wirft sie den Kantianern vor
— woraus
erscheint, daß nach ihr die ganze Natur ein blos im Raum in
uns, ge
fassetes und von den Kategorien
figuriertes und ausgezaktes Gebäk sei.
Das = x an sich bleib’ uns, nach ihrer Meinung ewig ein x und
Nichts; nur weis ich nicht, mit
welchem Grund dieses Unerklärliche
noch zur Erklärung
einer schon erklärten Sache beigezogen wird und
wozu die von
uns geschafne Natur noch einen äussern Schöpfer
braucht.
Mich dünkt, die Rüge dieser Zweideutigkeit zwischen Realismus und
Idealismus gehöre heller in Ihr Werk.
— Und nun legen Sie, verehrtester Genius, Ihre lossprechende
Hand auf meinen Kopf, der ausser der Kürze der Zeit, die durch Fremde
noch enger ward, noch seine eigne Beschaffenheit für sich
hat. Es wurde
mir schwer und zulezt widrig, durch Ihre
Blumenbeete und Frucht
gärten stum zu
schleichen und nur hinter denselben oder bei Staubfäden
laut zu werden, denen nach meiner Meinung im Sexualsystem
der
kritischen Klassifikatoren ein Misgrif drohte. —
Die Kürze der Zeit nahm meiner Sprache die Bescheidenheit — ich
warf alles trocken hin und lies überal das „scheint“ weg —
wie meiner
Lektüre die ausgestrichnen Stellen, die ich so
gern gelesen hätte.
Ich hatte heute und gestern keine andern Gedanken als Ihre. Ich
wuste nicht, daß ich schon heute am Freitag mein Summarissimum als
Teufelsadvokat
volführen würde.
Verzeihen Sie einer Seele, die Sie so unaussprechlich liebt und
ehrt, die Fehler der Eile — der Schwäche — des Sinnes — der
Kentnis
— der Kühnheit —; aber nicht des Herzens;
denn dieses kan und wird
und sol nie in Fehler gegen seinen
geliebtesten Lehrer fallen. Und so
vale et fave!
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_158.html)