Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Berlin, 29. Mai 1800 bis 8. Jun 1800.

Zum TEI/XML DokumentZur originalen Webseite

Brieftext


Berlin d. 29. Mai 1800

Lieber Heinrich! Dein Brief wurde mir nach Leipzig nachgeschikt
durch Herder. Zuerst meine Rechtfertigung! Der Clavis wurde durch
einen Schlagbaum der Zensur zu einem andern Drucker getrieben und
darum erst vor 10 Tagen volendet. Ich hätte dir ein Dedikazions
exemplar geschikt, wenn nicht alle Exemplare einander gleich wären. —
Daß du, Guter, schon jezt den Beitrag zum Taschenbuch erwartetest,
wust’ ich nicht; darum vergieb; aber vergönn’ auch noch 1 ½ Monat
Respittage, weil ich durchaus erst eine angefangne Arbeit volenden
mus, wozu auch die Reise gehört.

Häslich ists, daß ich dir meinen Brief stat des Briefstellers schicken
mus; alles was ich dir zu sagen habe — wozu ich mündlich Wochen
brauchte — mus ich dir in einer schriftlichen Stunde vorpunktieren
ohne Linie und Farbe stat es vorzumalen. Z. B.

Fried. Schlegel kam nach Weimar, mich zu sehen — denn er
liebt mich troz seines Missions-Feuereifers — und blieb 1 ½ Tage
auf meiner Stube. Er wurde mir noch mehr gut, ob er gleich
meinen Antagonismus in allen Punkten zu hören bekam. Er ist
ein unbefangner, sanfter, fast kindlicher, einfacher Mensch, der
nicht den Karakter, aber leicht die Denkungs- und Sprechart
eines Menschen fässet. Wir wurden leichter einig als unsere
Bücher weissagten; daran ist die jezige und seine Brutto-Rechnung
schuld, die aus allen unähnlichen Systemen, aber anders als
Leibniz, ein ähnliches, (ein Fichtisch-korinthisches Erz) heraus
schmilzt. Indem ich sein Herz höher stelte: so fand ich auf der
andern Seite sein Gehirn nicht vollöthig. Er konte mir auf meine
antifichtischen Einwürfe nicht antworten, „er könne sich nicht sogleich
auf den Standpunkt der Reflexion versezen“ versezt’ er — und er sei
kein Fichtianer. Über dich sprach ich nach meiner Art und fragte ihn,
wozu die idealistischen Saifenblasen-Montgolfieren hälfen, wenn das
transszendente Volk nicht vorher alles umgestossen hätte, was du
früher und später festgesezt. Er sagte, nie würdest du mehr studiert als
in Jena; und es sei nur schade, daß du nicht mit einem ganzen System
vorträtest. —

Gelehrsamkeit und Belesenheit fand ich nicht bei ihm; er kent wie
jezt die meisten, nur einige Nobili’s aus jeder Litteratur und dan
urthelt er über das ganze Volk ab. —

Zurük zu deinen Briefen! Vielen Dank für die herlichen von Bag
gesen,
der alle Genialität und Laune aufbietet, zu beweisen, er habe
sie nicht mehr; er ist der Philosoph, der die Bewegung läugnet, und der,
der sich damit davon macht, in Einer Person. Er kan nie glüklich sein
oder machen. So wohl im Moralischen als im Aesthetischen fehlen
ihm nicht Kräfte und Flügelfedern, sondern ein Ziel, dem er immer
zufliege; und so wird ihm das Leben durch den unbestimten Kreis-Flug
leer und mat. Selber seine Klagen haben kein Ziel; er wil klagen. —
Und doch kan ihn nur ein Amt und ein Weib und etwan ein Buch aus
heilen, an dem er 10 Jahre lange schreiben müste. — Er irret sich
über mich; beim Himmel! ich verehre seinen herlichen humour und Wiz,
und liebe seine Liebe, in so weit sie nicht die Alwilsche ist.

d. 1. Juny.

Deinen Witzeman hab ich leider nie bekommen können. — Daß
ich meinem Heinrich im ... (2 Stunden lang ist dieser Periode,
nämlich das Visittenhindernis seiner Volendung) wühlenden wogenden
Berlin schreibe, wo so viele mich und so viele ich sehen wil, mus mein
Heinrich erwägen und schäzen.

d. 2. Jun.

Seite IX. Zeile 4. v. unten steht in der Vorrede der häsliche Druk
fehler „frei“ stat „freier“.

Ich habe die höchste Hofnung, daß deine Augen, da sie nur von der
Versezung der Krankheitsmaterie leiden, sich im Gesundbrunnen der
Natur, in der Frühlingsluft bald heilen werden.

d. 8 Jun.

Am besten ist, ich sende diesen Brief ab, stat ihn zu volenden. Eben
so gut wolt’ ich den hiesigen Sand wegblasen als die Zerstreuungen.
Ausserhalb Berlin wil ich dir leichter etwas über Berlin sagen — und
über die glänzende Königin, die ich gehört und der ich den Titan dedi
zieret habe. — Schreibe mir dein Urtheil über den Titan, der leider
nur die ersten Mauern des Vorhofs enthält; das Hauptgebäude komt
nach. Lebe wohl, Geliebtester! —

Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 8 S. 8°. Präsentat: Jean Paul r[eçu] le 14 Juin 1800. K: Fr. Jacobi 29 Mai. J 1: Jacobi S. 64. J 2: Wahrheit 6,128×. A: IV. Abt., III.1, Nr. 422. 338,4 ohne Linie und Farbe] nachtr. H es vorzumalen] aus vormalen H 7 Stube] aus Stunde H 10 nicht] davor gestr. den lebendigenMenschen weniger durchschauet H 12 weissagten] aus verrathen H 31 damitdavon macht,] aus darein sezt H 339,21 nur] aus kaum H

337,33 angefangne Arbeit: wahrscheinlich das für Wilmans bestimmte„Heimliche Klaglied der Männer“. 338, 28 ff. Jacobi hatte Jean Paul aufseinen Wunsch ( 317, 32 f.) am 11. Mai Baggesens „Evangelium von denSäuen“ gesandt (J. an B. 27. Mai 1800); damit ist wahrscheinlich BaggesensBrief an Jacobi vom 10. April 1799 gemeint, worin von den in B.’s Häuslichkeit sich herumtreibenden Ferkeln (Kindern) die Rede ist und folgendeStelle vorkommt: „Auf Jean Paul habe ich, bescheiden und stolz, Verzicht gethan. Da alle zehn die Harfe durchwühlende Finger meines fantastischenBriefs [an J.P., IV. Abt., III.1, Nr. 99] keine Saite seines Herzens trafen, verzweifle ich,daß der arme Zitherschläger je es dahin bringe, einen ordentlichen Accorddieser großen Pedalharfe abzulocken.“ 30 Philosoph: Zeno; vgl.Bd. I, Nr. 213, 238,5 u. I.Abt., XII, 11,18. 339, 4 Thomas Wizenmann (1759—87),Jacobis früh verstorbener Freund und Schüler, schrieb u. a. „Die Resultateder Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie“, Leipzig 1786.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_473.html)