Von Jean Paul an Johann Christian Conrad Moritz. Hof, 17. September 1795.

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Brieftext

Hof d. 17 Sept. 1795.

Mein geliebter Moriz!

Alles was ich vom Hause, wo Sie sind, erhalte und erfahre — z. B.
durch den am Kopfe metaphorisch und am Fusse eigentlich geflügelten
Merkur Roltsch — giebt mir eine Sehnsucht zur Reise dahin, daß ich
immer die Flügeldecken aufhebe und hinfliegen wil. — Ich sage Ihnen
den wärmsten Dank für Ihre biographischen Hefte, die mir lieber sind
als die von Klischnig, der mein Gefühl zu oft mit seinem verlezte.
Fahren Sie so fort, Ihren über alle unsere Leichensteine nun erhabnen
Bruder zu palingenesieren durch Briefe und durch Samlung [?]. Sie und
unser Freund Mazdorf solten musivische Steingen aus seinem Leben zu
seiner Biographie zusammensezen: ich würde den Rahmen, das heist die
Noten darum schnizen.


Ich bin seiner Meinung über die Nothwendigkeit der parallelen
Ausbildung aller Seelenkräfte: nur durch die Schriftstellerei mus es
nicht geschehen sollen. Ein Buch fodert die ganze Seele, der Fokus der
selben auf mehrere Werke zerspalten, wird ein matter Stral und brent
nicht. Noch weniger fass’ ich, wie man heute etwas schreiben könne, das
morgen gedrukt wird. Ein Werk von Zusammenhang fodert eine
immerwährende Feile, schneid’ ich aber hinten weg, so mus ich ihm das
Vordere durch einen neuen Schnit anpassen und wenn der Anfang sich
schon im Drukkasten petrifiziert hat: so macht die eine Unveränder
lichkeit die andere nothwendig. Indes waren seine Werke selten so zu
sammengekettet wie dramatische oder wie meine Eier oder wie der
Schlangen ihre.


Ich und mein nächster Freund sehen begierig auf jeden neuen Zug
auf, den Sie am Bilde Ihres Bruders thun; und nunmehr können wir
Ihnen die briefliche Fortsezung von Anton Reiser nicht mehr erlassen.
— Wenn etwan einmal Roltsch mit seinem purpurnen Köcher vor
Ihrem Fenster vorbei wandelt: so werfen Sie ihm einen recht warmen
Grus von mir hinaus!


Sie werden wissen, wie sehr jezt meine Geschäfte meine Vergnügun
gen d. h. meine Briefe, abkürzen.


Leben Sie wol — der Himmel ziehe um Ihre Glükssonne nie eine
scheinbare Nebensonne, die Prophetin des Sturms — und Ihr eignes
Herz gebe Ihnen mehr als selber das Schiksal nehmen oder geben kan,
Ruhe und Ergebung, Freude an der grossen Natur und Verachtung des
vergoldeten bürgerlichen Leichenpompes um uns her.


Ihr Freund
Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K: Moriz 16 [!] Sept. * J: (Dresdner) Abendzeitung, 15. Jan. 1827,Nr. 13. (Wiederabgedr.: Eybisch S. 274.) B: IV. Abt., II, Nr. 51. A: IV. Abt., II, Nr. 58. 111,15 am Fusse] an Füssen K 21 Bruder] Todten K Samlung] Namung J 22f. musivische Steingen... zu seiner Biographie] aus musivischen Steingendas Kniestük K (vermutlich stand auch im Original zu einem Kniestük statt zu seiner Biographie; vgl. auch 124 ,15) 33 Drukkasten] so K, Druckkessel J 34f. zusammengekettet] zusammenhängend K 112,4 seinem purpurnen Köcher]dem Purp[ur] Köcher der Balb[iere] K 9 Glükssonne] Sonne des Glüks K

111,16 Rolsch: vgl. Nr. 103†. Er hatte von Matzdorff vorläufigen Unterhalt und Aussicht auf ein Unterkommen erhalten. Seine Mitteilungenstanden vermutlich in dem nur unvollständig erhaltenen Brief an J. P.IV. Abt., II, Nr. 49. Diesem oder dem vorigen Briefe Jean Pauls war einer an Rolschvon dessen Vater beigelegt. 19 K. Fr. Klischnig: „Erinnerungen aus denzehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton Reiser“, Berlin 1794.Moritz hatte in B ausführlich über seines Bruders schriftstellerische undmenschliche Eigenheiten berichtet: „An drei, vier verschiedenartigenWerken arbeitete er zugleich, wobei er den Grundsatz hatte, man müsse,um nicht einseitig zu werden, die verschiedenen Seelenkräfte, Erinnerungs-,Urteils- und Einbildungskraft, in gleichem Maße üben ... Dann fing erauch nicht eher an zu schreiben, als bis der Setzer schon auf Mspt. wartete,und schrieb selbst nun nicht mehr, als dieser so eben von Tag zu Tagbrauchte.“ 112, 1 mein nächster Freund: Christian Otto. 4 purpurner Köcher: vgl. 13,11 †.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_168.html)