Von Jean Paul an Amöne Otto. Hof, 22. August 94.
Brieftext
Verweilen Sie gerne, liebe Amöne, auf dem kleinen blassen aufs
Papier geworfnen Wiederschein meiner Seele vol Liebe und Wünsche
für Ihren Tag.
Ich stehe erweicht neben Ihnen und sehe, wie aus einer lichten
Wolke die geliebte Mutter auf Sie herabschaut und mit den geliebten
Menschen hier unten Ihren Geburtstag mitfeiert.
O da die Zukunft ein Eisberg ist, auf dem man in seiner Nähe erstart,
während auf ihm wenn wir ihn aus der Ferne sehen ein weites
glänzen
des Abendroth liegt: so
werde für Sie, Theuere, Ihre Zukunft der
rosige Schimmer, der
unsere Blicke fesselt und erhebt.
Das Schönere, wornach wir schmachten, liegt weit ab über den
Sternen, die so entlegen sind und wie diese schmuzige Erde tief im
grossen Himmel schimmern.
Da unser Weilen hier nur ein schnelles Hinwegeilen ist, da das Bette
nichts ist als ein breiterer Sarg, da unsere Wünsche unendlich
und
unsere Kraft so endlich ist wie unser Leben und jede
Freude, o so sei
dieser Goldschimmer des Eisberges nur der
Vorhof, der Sie in das
neue Lebensjahr führt, an dessen
Schwelle Ihr Genius steht und Sie
leicht über alle
Klüfte und Abgründe leitet.
O er führe Sie immer sanft, Theuerste, und Ihre Seele vol Kraft
und Tugend richte nur fortwährend den Blik nach den lichten Höhen.
Dort wohnet ja auch die, um die Sie trauern, die geliebte
Mutter;
aber sie wirft sich vor dem Höchsten nieder und betet für
die
Tochter.
Ich fasse Sie noch einmal bei der Hand und blicke gerührt in Ihr
Auge. Der Abend vereinige uns bei unserm Otto, an dessen Herz ich
vol stiller Wünsche fliege und an und in dem mein eigenes
wohnt, und
wenn sein Blik vol treuer
Liebe an dem Ihrigen haftet, o so glauben
Sie auch, daß
es eine opfernde giebt.
unveränderlicher Freund
Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_17.html)