Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Hof, 19. August 1794.

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Brieftext

Kopie
[ Hof, 19. Aug. 1794 ]

Dein Brief legte sich mit seinem herbstlichen Anstrich eben darum
desto milder um meine Seele, weswegen die Landschaftsmaler den
Herbst, der wie eine Fürstin mit seinen weissen Düften stil um alle
Blüten trauert, unter den 4 grossen Spielen der Jahrszeiten am
liebsten sehen. Ich sehne mich nicht mehr nach Satiren sondern nach
Elegien und mein Inneres ist oft so jämmerlich-weich als läg’ es in der
Brust eines Mädgens von 17½ Jahren. Ich bin von nicht[s] so
gerührt worden als von H. Jean Paul — der hat sich hingesezt und
durch seine Bücher mich verdorben und zerlassen. Jezt [?] bin ich ein
Selbstzünder und brauche keine Geliebte um warm, keine Tragödie um
weich zu werden. — je mehr Menschen mit ihrem BlütenBehang vor
deinen Füssen in die Erde einsinken wie fallende Nebel — je mehr sich
deine abblühende Stelle ausleert und du wie eine vergessene Herbst
blume allein über Grummetstoppeln wankest, je mehr es immer stiller
und öder um dich, immer lauter und voller in dir wird: desto weiter
dringet jedes Sargseil schneidend in dein Herz; ein Band des mit
Aether gefülten Geistes wird nach dem andern zerhauen und unser
besseres Selbst immer mehr von seinem Zug gegen die Erde erlöset —
der Trauernde wird zulezt ein Träumer — der Trauerflor giebt der
Nachbarschaft eine dämmernde ferne vergangne Gestalt und dan in
dieser Ueberhüllung des Innern entstehe nie die Frage im Bekümmerten:
wenn nun der lezte beste Freund gar stirbt — Ich mag diese Frage weder
beschliessen noch beantworten — der kleine noch in sein[er] Kulisse ver
hülte Erdenschauspieler — Hefte mir den Titular Hasenschwanz
Kandidat wieder an, den du mir abgeschnitten hast. Der Briefträger
behielt den Brief — deiner Anglisierung wegen — 8 Tage lang in der
Tasche, wo er ihm eine Naturalisazionsakte verlieh. Seze auf dein
Schreiben


Seiner
des Herrn Kandidaten Richter
HochEdelgeboren. —

Da der Mensch sogar die wirkliche Welt nur geniesset, indem er sie
in seinen Kopf versezt; da also sogar die Wirklichkeit nur durch die
destillatio per adscensum in der 4 Gehirnkammer Spiritus erhält
und das Erdige im Niederschlag verliert: so macht eine Phantasie
Welt, die man nicht erst über den Helm zu ziehen braucht, noch
glüklicher: Kurz die Realdefinizion eines Glüklichen ist: seelig ist wer
studiert hat und schreibt was ihm einfält. — Richte die herausfliegenden
Briefe nicht nach der ästhetischen Regel des reinen Sazes, aber stelle
die Mumien unter das Renzens[ier] Rekrutenmaas. — Wir müssen
irgend ein Pläzgen im Reich der Wahrheit zu unserm Disputa[to]rium
und zum Fechtboden unsrer Kiele machen. — Bring das Adjunkten
Hasenlangohr so weit, daß es Papier nimt und es brieflich [?] an mich
erlässet. Werfe dem Ohr nur vor etc. daß ich in diesem epistolarischen
Wechselgesang ihm in seinem Neustädter Chore schon ordentlich ant
worten und entgegensingen werde aus meinem Höfer. — Mein lieber
Adoptivbruder und schau mit einem genesenen Herzen der kurzen Ent
kleidung der Natur, der Flucht des Luftchors und dem Lichten der
gelbenden Gärten zu.


Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K: Wernlein 19 Aug. 94. i: Wahrheit 5,55×. B: IV. Abt., II, Nr. 4. A: IV. Abt., II, Nr. 11. 19,13 ihm] ihr 21 verliert] davor gestr. fallen lässet

Wernlein (der den Brief erst am 19. September erhielt) hatte in B anden vorjährigen Tod der Frau Otto (21. Febr. 1793) und den neuerlichender Frau Herold (s. den folgenden Brief), seiner „zweiten Mutter“, schwermütige Gedanken geknüpft: „Mir starben noch so wenig Menschen, dieich liebte und verehrte, und also ist der Eindruck davon auf mich destoneuer. Der Himmel verhüte es, daß künftig nicht alle Jahre der Zirkel,in welchem ich stehe, durch den Austritt einer Person enger werde! Wahrhaftig, wenn man sich so etwas wünschen dürfte, ich wünschte, daß ichihn eher enger machte, als jeder andere: denn der Gedanke, einmal sterben,ist doch bei weitem nicht so peinigend, als immer sterben zu sehen!“ 18, 35f. Vgl. I. Abt., V, 108,10f. 19, 18–23 Vgl. I. Abt., VII, 9,1ff. unddie Abhandlung über die Magie der Phantasie, I. Abt., V, 185—195. 28–32 Vgl. 12, 3f.†; wie aus A hervorgeht, ging Oertel auf Richters Vorschlageiner Korrespondenz ein, doch haben sich keine Briefe von ihm erhalten. 33 Vor „und“ ist anscheinend etwas ausgefallen.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_16.html)