Von Jean Paul an Amöne Herold. Hof, 20. Dezember 1795 bis 31. Dezember 1795.
Brieftext
Ich hoffe, ich habe jezt die Minute, die zwischen Kälte und Wärme,
zwischen Empfindlichkeit und Empfindsamkeit so das Mittel
hält, daß
ich mit Ihnen von Ihnen selber mit der reinen
Gleichmüthigkeit vol
Wohlwollen sprechen kan als wenn ich in
der zweiten Welt drüben einer
abgeschiednen Seele
die Ihrige zu malen hätte. Wär’ es möglich, daß
jeder von
uns zweimal da wäre und im moralischen Sin sich selber
sähe: so wäre jeder besser — wüsten wir gewis, wir haben gewisse
Fehler, wir legten sie
ab.
Ich betheuere Ihnen, ich denke jezt an den Ewigen und an sein Auge,
vor dem mein enthültes Herz mit dem enthülten Vorsaz liegt,
ohne
Einmischung meines Ichs die kleinen Schatten des
Ihrigen zu schildern.
Alle kraftvolle Menschen halten das Recht des Stärkern für ein
Recht, sie leiden über sich keinen Szepter, weil sie selber
einen führen
wollen. Daher sind die meisten Genies
egoistisch. Ihr Talent, das sie
erst verdienen müssen, machen sie zu einem Vorwand grösserer
Foderung; das Geschenk ist ihnen
ein Recht auf Tribut. Die ganze
Dankbarkeit, die der geistig Reichere gegen den Schöpfer hat, besteht
darin, daß er desto mehr von den ärmer Gelassenen fodert,
anstat daß
gerade die Menschen vom meisten Werth den andern
am meisten —
schuldig sind und nichts zu fodern,
sondern nur mehr zu geben haben.
Ihr Egoismus kömt von
etwas besserem her als von Ihrer Erziehung
— denn Ihre
nächste Schwester hat ihn nicht; und so ist Ihre Seele
wieder umgekehrt von andern, dieser Erziehung anhängigen Mängeln
ganz rein, z. B. von Verstellung — Sie verstehen mich
immer falsch
über diesen Vorwurf, als wär’ ich das
Opfer desselben, da ich doch
meistens dessen Ausnahme bin ...
Eine andere Stunde mag das Vorige fortsezen; lassen Sie mich jezt,
Seele in meiner Seele, den lezten abrinnenden Tag des Jahrs
mit
einem sanften Anschauen Ihres Bildes
schliessen. Mein Geist ist jezt
müde, aber mein Herz ist
vol. In dieser holden eiligen Minute sezet
sich aus allen
Ihren Tugenden und Reizen eine reine schöne erhobene
Gestalt
zusammen, von der das Irdische und Mangelhafte gleichsam wie
bei einer Auferstehung abfället für diese Minute und die ich, umgeben
von den 365 Gräbern Eines Jahres, mit zu weicher Seele
anschaue
und anrede:
„ich kenne dich, liebe Gestalt, dein Bild wohnt in mir und nur dein
„Urbild ist oft bedekt oder bewölkt — nim wieder, Theuere,
was du so
„oft bekamst, meine volle reine heisse
Freundschaft und gieb mir dafür
„ebensoviel, auch
deine ganze Freundschaft — Wir können uns nicht
„vergessen,
obwol verfehlen — Verwische deine Flecken, damit meine
„vergehen! — Und so wollen wir wieder und wieder, mit so ähnlichen
„Herzen mitten unter den Ruinen eines so kleinen zerstükten
zerbrochnen
„Lebens einander die Hände reichen und
sagen: wir wollen uns nicht
„mehr vergessen.“
Beste Freundin, ich solte kaum mit Ihnen in einer Stunde sprechen,
wo so viele vorhergehende Rührungen mir die Herschaft über
die jezige
genommen — und doch sehnt’ ich mich ordentlich
nach diesem Augen
blik, wo ich Ihnen
mitten im Bewustsein eines zu heftig schlagenden
Herzens dieses öfnen und Ihnen seinen Inhalt zeigen kan; nämlich alle
seine Wünsche für Sie — und alle seine Erinnerungen an Ihre
trüben
Tage — und alle Erinnerungen an die erhabnen
Minuten unsers
Einklangs — und alles, was die Freundschaft
stammeln kan, ehe sie in
lauter Wonne verstumt.
Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_213.html)