Von Jean Paul an Amöne Otto. Hof, 23. März 1795.
Brieftext
Ich nehme mit der innersten Seele an dem Aufreissen und Ein
wühlen in alle Ihre Narben Theil. Alles was Sie verlangen,
thu’ ich
heute schriftlich. Wollen wir aber jezt neben dem
Schmerze auch die
Vernunft hören. Ich wolte fast gewis
voraussagen, daß Er Einmal
nach der Lesung meines Briefes kömt; — und soviel ist auch jezt
genug,
da die Feiertage ohnehin bald den 2ten Besuch herbeiführen —; aber
vor
Mitwochs, oder Donnerstags ist diese Erscheinung wegen des zu
nahen Bezugs auf den gestrigen Kampf, schwerlich möglich. Sie thun
sehr Unrecht, mich auf fremde Kosten zu loben: in meinen Verhält
nissen würde er dasselbe weiche Schonen fremder Wunden haben, ja
mich in der launenlosen Festigkeit und Beständigkeit noch
übertreffen.
Seine Verhältnisse kennen Sie nicht wie ich, um ihn eben so
moralisch
tadellos zu finden wie ich.
Machen Sie sich aber nur nicht aus einer
nahen Wolke
einen ganz schwarzen Himmel — als wenn dieses Viertel
jahr (denn dann, oder eher ist alles Düstere entflohen) nicht
zu über
dauern wäre. Sol denn die
Traurigkeit die einzige Leidenschaft sein, die
allein genähret,
aber nicht gezügelt zu werden verdient? — Erinnern
Sie sich nur
wie Sie bei jedem häuslichen Zank oder auswärtigen Mis
verständnis gerade die jezigen
Proph[ez]eiungen der Zukunft machten
— und durch den nächsten Zufal war alles wieder erleuchtet und
ver
schwunden. — Abends geh’ ich zu Ihm;
und beim Fortgehen geb’ ich
ihm den Brief. — Leben Sie wol —
Der Himmel halte das Haupt der
gebükten Blume und nehme die
schweren Gewittertropfen weg und geb
ihr seine Sonne und
seinen Morgen wieder.
Freund.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_81.html)