Von Jean Paul an Renate Wirth. Hof, 9. März 1794.

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Brieftext

Hof d. 9 März 94 [Sonntag].

Blos um mich bei mir selber zu entschuldigen, — weil ich innerlich
Ihre Kälte einer bessern Ursache zuschrieb als der Laune —, büss’ ich
eine voreilige Sekunde mit einer langweiligen Kopier-Viertelstunde.
Nie ist die Kälte schneidender als bei eigner Wärme. Wie gros die
leztere bei mir gestern war, beweiset mein Brief, den ich wörtlich
treu
aus seinen Ruinen kopiere.


Schwarzenbach d. 8 März 94 .

Theuerste Freundin

Ich wolte Ihnen heute für den SonnenUntergang Ihres Jahrs
recht viel zubringen — und bringe recht wenig, weil ich schon unter
andern Anspannungen ermattet bin. Wenn aber irgend eine Bay
reuthische
Minute zu mir trit und mir alle ihre Zaubertränke eingiebt
— dan bekommen Sie einen Brief. Zwei andere aber gedrukte, zum
Nachhall eines Jahres gemachte Briefe könten Sie wenn Sie wolten
im 2ten Theil meiner Mumien von 135 bis 148 und von 447 etc.
lesen. — — Und doch werd’ ich jezt weich, indem mir ist als hört’ ich
die Abend- und Todtenglocken eines eingesunknen Menschenjahrs sanfte
Töne in Ihre Seele senken, Töne wie aus der Ewigkeit — und ich
sage, indem ich Ihr Jahr heute mit der Abendröthe seines lezten
Tages in sein Grab einsteigen sehe: „Sinke nur unter, du langes Jahr,
„mit allen den Thränen, die du Ihr aus dem Herzen gedrükt, und lege
„dich auf dein Todtenkissen vol Freudenblumen, die du Ihr ertreten
„hast — aber doch habe Dank für alles was du Ihr gabest und was
„schöner war als was du Ihr nahmest — habe Dank für das weichere
„Herz, das du dem Busen vol Seufzer gegeben, für jede Thräne, die
„Sie besser gemacht, für jede Tugend, die du Ihr abgefodert und für
„jeden Abend, wo das Versinken der Sonne Sie an Ihres und das
„Emporsteigen des Mondes Sie an unseres in der zweiten Welt
„erinnerte — und so ruhe wol, langes Jahr, bis irgend ein grosser
„Genius dich aufreisset und sagt: steh auf und sag’ an vor Gott Ihre
Fehler und Ihre Tugenden“ — —


O meine Freundin, es wird gewis aufstehen, so wie meines, das sich
auch in diesem Monat nicht weit von Ihrem niederlegt — ach wenn
der Mensch die Hofnung nicht hätte, morgen noch besser zu werden, er
wäre trostlos; und doch kan der nächste stockende Pulsschlag diesen
Morgen ermorden —


„Neues Jahr meiner geliebten Freundin! — sag’ ich auf Morgen
„jezt in dieser schönen Stunde der Erweichung — nim Ihrem Herzen
„die Seufzer, Ihrem Auge die Thränen, Freudenthränen aus
„genommen — mach’ Ihre Entschlüsse fester, Ihre Seele stiller, Ihr
„Leben gleicher — vernichte den Unterschied zwischen der Einsamkeit
„und der Geselschaft als wenn man nicht gerade in dieser das aus
„führen müste, was man sich in jener vorgenommen und als wenn
„die Gedanken der Einsamkeit nicht grösser, schöner, wichtiger, ewiger
„wären als die Gedanken der Geselschaft — die schönsten Gefühle sind
„nur Blüten, schöne Thaten sind erst die Früchte dieser Blüten; und
„die heissesten Thränen sind nur der warme Abendregen auf die
„Tugenden, aber nicht die Tugenden selber — beglücke, erhebe, prüfe,
„beschenke, und erhalte Sie, Neues Jahr!“


Mein Herz schlägt stärker, je länger ich schreibe — ich endige mit
dem Wunsche, daß Ihres meines niemals verkenne, was alle Menschen
so liebt und was der ewige Freund des Ihrigen ist, vor dem es so
oft zerflos.


Ihr Freund Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin acc. ms. 1900. 61 (derzeit BJK). 5 S. 4°. J: Täglichsbeck S. 65. 7, 23 kan] aus konte 30 wennwenn

Zu Renatens 19. Geburtstag (9. März). 7, 3 Mumien: s. I. Abt., II,291—298 (Ottomars Brief im 34. Sektor) und 447—453 (Ausläuten).

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_4.html)