Von Jean Paul an Charlotte von Kalb. Hof, 8. November 1796.
Brieftext
[Da mich Ihre Gründe gegen die „Vernichtung“ und „Monds
finsternis“ nicht überzeugen, so würde
ich durch die Befolgung Ihrer
Bitte mich selbst
verläugnen. Ich kan viel opfern, aber nicht meine Be
geisterung für die Unsterblichkeit und deren Hofnung. Kein
Verhältnis
darf auf das des Dichters einen Einflus
gewinnen. Vortreflich gesunde
Naturen wie Sie haben wohl
ähnliche Meinungen über Verhältnisse,
aber für Schwächlinge
ist es Arsenik.
Zehn Tage war ich in Bayreuth, an den zwei lezten sprach ich zu
einem langen Abschiede die Fr. v. Krüdner, die nach Lausanne
reiste,]
um ihre schöne Seele an den Gletschern zu erwärmen.
[Ihre grosse
Aehnlichkeit und
Unähnlichkeit brauchte eine mündliche Schilderung.
Durch die Krüdner sind mir die Etudes de la nature von St.
Pierre
bekant worden. Sie kennen sie wohl? Rousseau hat auf
ihn gewirkt,
aber nach ihm hat auch keiner weder schöner noch wahrer
geschrieben.
In Ihrem Urtheil ist eignes Gefühl zuweilen vorlaut, daher gefält
Ihnen Ihr Echo im Hesperus. — In den Mumien und der Monds
finsternis misfält Ihnen zu sehr das mit
Ihnen Dissonierende; aber ich
verlange Ihr Urtheil über
den dritten Theil des Hesperus. Sie sind eine
transszendente
Portraitmalerin der Individuen; dies verstehen
Franzosen, aber
keine Deutsche. Sie sind in diesem Punkte keine.]
Ein mänliches Herz ist der Tummel- und Zimmerplaz der ganzen
Welt, das Kampffeld der politischen Verhältnisse und die Grotte der
Freundschaft. — Der in so viele Arme zertheilte Strom der Liebe
geht
dan freilich nicht so tief und breit dahin als
der, der unzerlegt aus einem
weiblichen Herzen fliesset, das
selten mehr umfängt als das, was es ge
heirathet und was es geboren hat. — Eine Seele, die
[der]
Guyon
Herz in ihre Brust zu ziehen und zu fassen weis, täuscht sich
über das
Misverhältnis zwischen ihrem Werthe und ihrem Glauben,
sie ist
grösser und geistiger als ihr
Glaubensbekentnis. — [Schillers]
Furien Almanach hat mehr Salz als Farben: alles darin ist
klein, aus
genommen das Kleine
[die Epigramme. Ich werde nie etwas darüber
sagen, so sehr die Mishandlung eines Reichard, Hermes etc.
einen
Bluträcher aufruft; aber] der
genialische Egoismus, der heftigste
[unter allen], verdient
[im Algemeinen] äzende Farben und
breite
Striche. [Doch habe ich gegen
Göthe und Schiller eben so viele Liebe
als eigentliches Mitleid mit ihren eingeäscherten Herzen. —
Warum
hör’ ich nichts von meinen geliebten Herders, die wie
Jugend- und
Heiligenbilder vor meiner Sehnsucht stehen, und von den
andern, be
sonders von Knebel, den
ich zugleich liebe und bekämpfe. — Ach Sie
halten mich für so veränderlich und ich habe noch keinen
einzigen
Menschen aus Weimar vergessen, wie viel weniger
Sie, aber] Ihre
Hand drükt seltener meine Hand als mein Herz und presset
dieses blutig.
[Ersparen Sie mir jeden Argwohn. — Ich werde Ihnen lange
nicht
schreiben, aber oft an Sie
denken.] — In Ihr weites glühendes Herz
senke das Geschik immer die Flammen Nahrung.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_456.html)