Von Jean Paul an Emanuel und Carl August Matzdorff. Hof, 29. November 1796 bis 2. Dezember 1796.
Brieftext
Mein unvergeslicher Emanuel!
In diesen Minuten kommen mit den Schneeflocken meine Blumen
stücke an und sie fliegen sogleich in
Ihre Hand. Mögen sie nicht das
Schiksal ihrer Koätanen
haben!
Das Schiksal führe mir noch so viele Freunde zu: es ist keiner dar
unter, dem ich meine von meinen Zweigen
kommenden und fallenden
Blätter (Früchte trägt der Mensch wenig) lieber gebe als
Ihnen.
Und Sie würden, gesezt ich bekomme Sie einmal in duplo, doch den
Vorzug der Ancienneté behalten.
Ihre Briefe erhalt’ ich am liebsten, weil ich doch etwas daraus
lerne. Ich bin kein Freund von den gewöhnlichen Briefen, wo
mir
einer jede Woche dokumentiert, er hasse mich
nicht.
Gegenwärtiges Papier drehen Sie zu einem Billet und schicken es
samt dem einen Exemplare der Blumenstücke und dem blauen
Buch
an Elrodt.
Noch ist alles da. — Die rabbinische Geschichte der Thora ist der
feinste Umris ihres Zweks und ihrer Schranken. Geben Sie
mir nur
in jedem Brief eine nachgedrukte halbe Seite Ihres
Talmuds, zumal
über den Tod: — endlich brauch’ ich die ächte Ausgabe
nicht.
Ich lieh vor einigen Jahren die Mumien der Renate, um sie
Ihnen
zu schicken; da es mein leztes Exemplar und also
das meinige für den
Gebrauch bei einer 2te Auflage ist und da ich mir immer eines borgen
mus, um zu sehen was mein 30 jähriges Ich anders dachte als
das
33jährige: so bitt’ ich Sie, im Falle Sie es ganz
gelesen, mir es zu
senden. Nehmen Sie mir aber diese
Autorbitte nicht übel.
Die Blätter der Blumenstüke sollen eine kleine Unterlage
gegen
die Stacheln des Ziliziums sein, das wir alle tragen. Könte
man nur
die Menschen froh machen, so wären sie auch gut: das
Volk beglücken,
heisset es verbessern und alle Sünden
desselben entstehen aus der
Armuth. Höher hinauf vollends
macht der wachsende Kontrast —
da die Verfeinerung
zugleich die Empfindlichkeit und die Marter
instrumente, zugleich die bürgerlichen Abgründe und die
idealischen
Höhen vergrössert — die Erde so verworren,
daß die Tugend auf ihr
noch leichter zu finden ist als das
Glük. Ich möchte also — und wil —
mit meinen litterarischen
Eintagsfliegen den Menschen lauter Ruhe
stätten zeigen noch vor der tiefsten — sie mit den Thoren
versöhnen
auf Kosten der Thorheiten — ihnen in allen
Ständen nicht nur Freu
den, sondern
auch Tugenden (sogar ein Minister wäre zu beiden, wenn
er
sich anstrengte, fähig) und in der Armuth nicht nur, sondern auch im
Reichthum diesen, und am Ende auf der Erde zwei Himmel
zeigen, den
jezigen und den künftigen. Meine Blumenst[üke]
sollen den Frohsin in
der Armuth malen: meine
Behauptungen kommen nach meinen
Erfahrungen und immer hat die Zeit, wo ich einmal am ärmsten war,
einen unaussprechlichen Reiz für mich. Die Alten suchten
ihr Glük in
Grundsäzen, die Neuern in Empfindungen; aber da jene nur ein
kleines geben, und diese nur ein unstätes: so hilft nur ihre Ver
einigung, die der Dauer mit der Grösse.
— Leben Sie wohl, mein Lieber, grüssen Sie Schäfer. Jezt ver
geben Sie mir mein — künftiges
Schweigen.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_472.html)