Von Jean Paul an Emanuel. Hof, 31. Dezember 1794.
Brieftext
Mein lieber Emanuel
Nehmen Sie diesen Brief nur für den Anfang eines Briefs. Wir
müssen alle gewisse Abmarkungen am Ufer und Strome der Zeit an
nehmen — und das ist für meine
Religionsparthei der heutige Tag;
aber im Grunde ist ers auch für Sie, da doch jeder Tag der
Geburtstag
eines neuen und der Todestag eines alten Jahres
ist. Indem mir jezt
um 12 Uhr zu Nachts, wie bei einer Aukzion,
das neue Jahr samt
seinen Abendröthen und Abendgewittern
zugeschlagen wird: denk’ ich
an Sie und an Ihren Brief und
an meine Wünsche für Sie, die Ihnen
alles geben möchten was ein
schönes Herz verdient — Und meine
Wünsche sind, daß Ihnen die
Gegenwart so magisch werde wie eine
Erinnerung oder eine
Hofnung, diese Dekorazionsmalerinnen unserer
düstern Minuten —
und daß Sie für die Sehnsucht, die in jeder aus
gedehnten Seele wohnt, auf dieser Erde nicht Stillung sondern
Nah
rung suchen, weil gerade das Bessere
im Menschen, d. h. sein Hunger
nach einer hier unsichtbaren Tugend, Freude und Weisheit ihm seine
Verpflanzung in eine reichere Welt verbürgt — und daß Sie
aus der
Hand der Tugend jene stumme Glükseligkeit empfangen,
deren Ent
behrung man durch die
laute verlarvt ...
Es giebt eine sanfte Melancholie die das Auge mehr schimmernd als
nas macht und die unsere guten Vorsäze mit langsamen
Augentropfen
befruchtet — sie gleicht dem stillen dünnen
Regen, der der fruchtbarste
ist. Diese Melancholie ergreift uns
in der lezten Minute eines an
Glockenseilen in die Ewigkeit hinabgelassenen Jahres — und
die
kalten Glieder der Todten, die wir verloren haben,
berühren dan unsere
Seele und heilen ihre Mängel.
Ich sage zugleich: eine gute Nacht! und ein gutes Jahr! — Und bin
und bleibe
Freund
Richter.
N. S. Indem ich am neuen Jahre meinen ungestümen Brief
überlese: wünsch’ ich daß Sie diesen freien Ausgus meiner Nacht
gefühle für ein Zeichen eines
schrankenlosen Vertrauens auf Ihre
Seele halten — daß Sie
mir die Kürze des Briefes vergeben, der
Ihren gütigen und
schönen nicht genug erwiedert — und daß wir
Briefe nicht wie
Visitten gegen einander berechnen, und daß darum
keiner von
uns schweige, weil etwan der andere schweigt. Renate hat
mir schon 2 mal in Ihrem Namen Hofnungen zu Ihren
Briefen ge
macht; aber sie zögern so
lange, daß ich sie mit unter die Gegenstände
der
Neujahrswünsche bringen kan. —
Ich wolte, wir könten über irgend eine philosophische Materie
uneins werden, um wieder eins zu werden durch ein langes Disputieren
darüber.
Vielleicht finden Sie in meinem Buche etwas, gegen das ein
Brief-Manifest zu erlassen ist. —
Leben Sie noch einmal wol und alle Ihre Freunde, die ich kenne
und die ich nicht kenne
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_48.html)