Von Jean Paul an Emanuel. Hof, 9. Februar 1795.
Brieftext
Mein lieber Emanuel,
Man solte einem Autor für nichts mehr danken als für Briefe, so
wie für nichts weniger als für Bücher: denn da ihn diese ausschöpfen
und da sie ohnehin
nichts sind als Briefe in dickerem Format, so mag
er keine von
kleinerem liefern. Der Mensch geniesset sein Ich nur,
indem ers
verdoppelt, — so wie er seinen Körper erst in der Verdoppe
lung durch den Spiegel überkömt; und eben dieser Zwang,
unsere
Seele vor einer fremden abzubilden und unsere
innere Quellen gerade
durch einen Abflus zu — vermehren,
nöthigt die Mädgen zum Brief-,
die Autores zum Bücherschreiben,
die andern zum Reden und einige
zum Thun.
Wenige zu Tagbüchern. — Ihres ist nach meinem Gefühl ein
schönes
sanftes Echo dessen, was sonst in der Seele zu leise ist, um
herauszutönen. Es giebt eigentlich nur stumme Tugenden, nicht
stumme Sünden — das Edlere in uns, die heiligsten Gefühle fliehen am
ersten das Licht und das Auge und hüllen sich, für ein ganz
anderes
Leben blühend, gern verborgen ans Herz — aber
eben das Schlimmere
wird von der geistigen Natur wie böse Säfte
auf die äussere Haut
herausgetrieben, um nur desselben los zu
werden: ein Bösewicht ist
sicher froh, wenn die Übelthat vorüber
ist, weil er dan seine Seele
nicht länger mit dem Entschlusse
dazu zu beschmuzen braucht.
Nur gute Menschen können Tagebücher machen, Lebensprotokolle,
gleichsam Hauptbücher unserer moralischen Bilanzen. Wäre das nicht,
so würd’ ich mich wundern, daß so wenige Menschen Annalen
ihrer
kleinen entflatternden Tage machen. Warlich wir
Menschen sind
überal Narren und saugen uns wie
Schmarozerpflanzen mit unserem
Ich nur immer an auf
fremden Ich’s: denn die römische — die
brandenburgische — die sinesische — die hottentottische
Geschichte
drücken wir mit allen ihren leeren Fürsten in die Seele ein;
aber unsere
eigne werfen wir als eine ausgekernte Hülse weg von
uns: wir selber,
unsere lebendigen Tage sind uns weniger als
öde kahle Zahlen und
Sagen vor der Sündfluth, da doch
unser Leben, weil die Gegenwart
nur aus hüpfenden Sekunden, die Vergangenheit aber aus
Jahren
besteht, nichts ist als ein fortwährendes Erinnern
des Lebens. Die
ganze Geschichte ist, insofern sie ein Gewächs
des Gedächtnisses ist,
nichts als eine saft- und kraftlose
Distel für pedantische Stieglizen;
aber in sofern ist
sie wie die Natur alles werth, inwiefern wir aus ihr,
wie aus
dieser, den unendlichen Geist errathen und ablesen, der mit der
Natur und der Geschichte wie mit Buchstaben an uns — schreibt. Wer
einen Gott in der physischen Welt findet, findet auch einen in
der
moralischen, welches die Geschichte ist: die Natur
dringet unserem
Herzen einen Schöpfer, die Geschichte
eine Vorsehung auf. Aber,
(zurükzukommen,) wenn wir götliche
Fusstapfen im grossen langen
Gange der Weltgeschichte
aufsuchen: warum wollen wir sie nicht noch
lieber in den
kleinern Tritten unsers Lebens studieren und Tagebücher
machen?
Denn wenn einmal irgend eine Hand den Zügel und das
Laufband der ganzen Welt regiert: so mus sie auch, da die Welt ja
aus nichts als Individuen besteht, eben das Individuum
versorgen,
um das Ganze zu versorgen. Es ist unsinnig, zu
denken, daß die grossen
Räder im Universum gehen werden, wenn
der Schöpfer nur die Räder,
und nicht auch die kleinsten Zähne
daran machte. Wenn er nicht
Kleinigkeiten besorgt: so besorgt er
gar nichts; weil die Grösse nichts
ist als eine grössere Anzahl Kleinigkeiten ...
— Ich bitte nicht um Nachsicht für diesen Irsteig: in einem Briefe
und in einer Visitte ist man an keine Paragraphenkette gebunden.
Al
gemeine Wahrheiten müssen bei uns
beiden die Stadtneuigkeiten sein;
und wenn man diese ohne
Ordnung sagen darf, warum nicht jene?
Was mir in Ihrem Tagebuch ausser dem philosophierenden Geiste
darin so wol that, ist Ihre Toleranz mit allen Menschen, mit
ihren
Schwächen, mit fremden Schlägen, mit eignen
Schmerzen.
In Ihrem schönen Briefe veranlasset mich eine einzige Anmerkung
zu einer entgegengesezten — diese, daß volkommen geborne
Wesen
schlechter sind als volkommen werdende d. h. sich bessernde. Ich
glaube das
Gegentheil. Gott selber ist, aber wird nicht heilig oder
volkommen. Zweitens besteht die moralische Kraft so wenig in
Be
siegung der
unmoralischen, als die Gesundheit in der Bekämpfung
der
Krankheitsmaterie: sondern wie die Gesundheit am grösten ist ohne
Anlas zum Bekämpfen, so ist Tugend ohne Anlas zu Siegen — d.
h.
ohne Angriffe des Lasters, d. h. ohne anfallende
kleine Laster — am
grösten. Je besser der Mensch wird, desto
weniger hat er in sich zu
bekämpfen, und der Neubekehrte hat
gerade grössere Kriege, aber
doch sicher nicht grössere
Verdienste als der Tugend-Greis. Noch
mehr: wenn angeborne moralische Kraft weniger Werth haben sol:
so frag’ ich, mit welcher andern als einer angebornen wird denn der
Schwache über seine
Versuchungen Herr? — Das Verdienst, sich
selber gar auszuschaffen, hat zwar der Schwache, aber der Engel
hat es noch mehr: nur fängt dieser sein freiwilliges Steigen
auf einer
höhern Stufe, aber auch mit grössern Flügeln, an. Endlich
wenn
angeborne Tugendtriebe kein Lob verdienen: so
verdienen auch an
geborne Lastertriebe
keinen Tadel; und folglich wäre des Engels
Gehorsam gegen jene und des Menschen Sieg über diese
gleich
unverdienstlich.
Der ganze Streit entspint sich aus dem grossen Räthsel, von dem
selber Kant die Schreibfinger abzieht: „was macht, daß der Mensch
gut wird, da man, um sein Wollen
bessern zu wollen, ja schon eben
dieses gute Wollen haben müste und es also unnöthig wäre, es erst
hervorzubringen?“ —
Der März, dieser Werbe-Monat des Todes, der die Menschen
gewöhnlich in den transszendenten Himmel trägt, wird mich hoff’ ich
in den irdischen führen — nach Bayreuth. Wir wollen jede Viertel
stunde Bogen von Briefen dan
aneinander — schreiben, d. h. reden.
Ihr lustiger Brief war
einer spashaftern Antwort, und Ihr langer
einer längern werth.
Aber Sie vergeben mir beides, denn das Schiksal
hat Sie längst
an das Vergeben angewöhnt.
Leben Sie recht wol und schreiben Sie mehr als ich, und, was
ich
am meisten bitte, früher
als ich: gute Nacht, guten Morgen, guten
Tag, guten Abend,
Lieber!
Freund
Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_64.html)