Von Jean Paul an Amöne Herold. Hof, 8. Januar 1795.
Brieftext
Wenn nach 60, 70 Jahren — weil das Blat, aus unsern Kleidern
gemacht, doch länger dauert als die, die sie tragen — irgend ein fremdes
Auge auf diese fremde Hand zu einer Zeit stösset, wo wir doch
alle in
unserm eignen Staube schlafen nicht mit zugedrükten,
sondern aus
gehölten Augen, und wenn der
Leser fraget, wer der Fremde ist: so
sag ich ihm’s hier:
es war der warme zu sehr gerührte Freund der
edlen Seele, deren
magischer Wiederschein auf den vorigen Blättern
sein Herz so
sanft wie Abendroth bewegte — es war Ihr Freund,
Amöne, der’s
immer war und immer bleibt. Aber ich wünsche Ihnen
nichts — das
grosse, stille, nicht blos Menschen- sondern Welten
freundliche Schiksal, das mit den kurzen Linien unsers
kleinen Lebens
die Zeichnung der grossen Welten-Zukunft macht,
kan wol unsere
engen Wünsche für fremde Freuden weder stillen
noch billigen, die
wir täglich thun, da wir doch wissen, daß
[gerade der Schmerz im
Menschen das
Edlere wie] ein Erdbeben die Berge hervorhebt, und
daß wir die Töne der zweiten Welt nicht im Lust-Getümmel,
sondern
in der dunkeln Stille des Grams vernehmen, wie die
Mundharmonika
sich am schönsten ohne Lichter in der
Finsternis an unsere ungetheilte
Seele legt. — —
Aber der ohnmächtige Mensch mus wünschen, so wie die in Leiber
eingesenkte eingemauerte Seele fremde Hüllen in der Liebe berühren
mus — und ich wünsche Ihnen, edelste Freundin, die jezt wie ein
in die
Ewigkeit zurükgegangner Frühling vor mir blüht, alles,
alles, alles
was die wärmste Freundschaft wünschen kan — du
ewiges Schiksal gieb
ihrem Auge andere Thränen als bisher
und ihr nach Besserung
schlagendes Herz ruhe sanft und stil an
einem andern aus, an und in
dem mein eignes wohnt.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_52.html)