Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Hof, 22. März 1795.

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Brieftext

Kopie
[ Hof, 22. Mär. 1795. Sonntag]

Den Wernlein änderst du nicht, er spasset selbst über seine Brief
Ai-heit 〈Faulthierheit〉 um abzuwenden, daß andere Leute nicht dar
über zürnen. Ich wil mich aber verstellen und ihm heute über seine
briefliche Polygraphie ein Elog[ium] zuwerfen: „Auch schreibst du im
Ganzen viel, wenn ich anders nach den Briefen urtheilen darf, die du
kriegst und die deine Antworten voraussezen. Eigentlich mus man
schon froh sein, wenn du nur eintunkst und hinschreibst: Neustadt den
und den 95 und kein Wort weiter. Warlich ich bin so sehr auf den
Anblik einer freundschaftlichen Hand ersessen, daß es mich befriedigen
würde, wenn mir nur einer von Posttag zu Posttag ein Schreiben
schikte des Inhalts: Der ich die Ehre habe zu verharren Ew. etc.
Hundertmal geht man zu Bekanten, ohne etwas wicht[igeres] zu
hören als den Brief Elenchus: der ich die Ehre [habe etc.] Denn das ist
eben das gröste Glük des verwundeten und verarmten Menschen
geschlechts, daß unter 1000 etc. nur ½ Mensch weis, warum er den
andern liebt und besucht. Die Menschen leben in den Tag hinein —
lernen in den Tag hinein — lieben in den Tag hinein, ausgenommen
der Exquintus alhie, der Leben, Lernen, Lieben bleiben lässet. — Heute
ist Bustag und ich bin lustig; aber gerade öffentliche Passionstage
arten zu Fastnächten und noch mehr umgekehrt: wenn ein Volk über
deinen Kopf hinüberjauchzet, wirst du am geneigtesten sein, in eine
Laube zu gehen und beklommen der untergehenden Sonne oder einem
Würmgen auf d[er] Laube zuzuschauen. — Störe mich nicht und lasse
mich schreiben was mir beifält. Thue mir den Gefallen und schreibe
mir einen Saz, den ich nicht glaube, damit ich ihn anfechten kan. — das
rastrierte Geäder der Gedankenstriche — Gebährhaus der Druckerei[?]
— Thust du es nicht, so fall’ ich Tropfen in die Hände (wenn sie nicht
etwas schlimmers am Arme haben) und ich stehe einer ganz andern
Partheilichkeit Preisgegeben — Lob macht nur, daß man seine Stufe
behauptet, Tadel aber, daß man eine höhere ersteigt — Gegen deine
kritischen placita und Erkentnisse würd’ ich das beneficium appel
lationis
oder doch leuterationis ergreifen — Trät’ ich in die kritische
Vehme ein: ich würde keinen Teufel schonen, möcht’ er laborieren
oder kollaborieren — Da [die] Berliner Bibliothek die grösseren
Sünden thut als rügt: so solte man sich fragen, warum die genialischen
Kunstrichter häufiger sein sollen als dergl. Autoren — denn es ist ein
Vorurtheil, daß der höhere Geschmak öfter zu finden als das höhere
Genie. — Der Prügel ist fort, aber der stachlichte Dornenstok grünt
im Hause. Die alliierten Mächte werden ehe[r] Frieden machen als die
verwandten. Warlich [ich] wil lieber den stärksten Keulenschlag des
Schiksals als das Geprickel abgeschossener Nadelbriefe dulden, das
Schiksal schiesset und erlegt Mädgen wie wir kleine Vögel (damit sie
nicht zerrissen werden) nur mit Vogeldunst — Der Frühling nehme
bald den drückenden Winter von der Seele und Gegend und stelle dich
vor eine lange Blumenwaldung hin, deren Blumen in Einem fort
gehen bis an den Horizont, und aus den hohen Blütenhalmen müsse sich
im Mai ein Krauskopf auskrabbeln und herausheben — der deines etc.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K: Wernlein 22 März. B: IV. Abt., II, Nr. 26. 62, 2ff. Wie weit das „Elogium“reicht, ist nicht zu erkennen.

Wernlein hatte den Schreibpakt (s. zu Nr. 9) nicht eingehalten, sondernauf Richters Novemberbrief (Nr. 38) erst im März geantwortet. 62, 16 Exquintus: Wernlein hatte in B angekündigt, er werde nächstens einvon ihm verfaßtes Schulprogramm „Über die Mittel, den griechischenSprachunterricht zu erleichtern“ schicken, über welches alle seine Amtsbrüder vom Lang in Bayreuth (Lorenz Joh. Jak., Professor, 1731—1801)bis auf den gewesenen Quintus in Hof die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden. Gemeint ist Joh. Nik. Brückner (s. Bd. I, Nr. 90, 145,4†), deram 22. Febr. 1795 Pfarrer an der Hospitalkirche in Hof geworden war;s. Nr. 83 und I. Abt., V, Einl. S. XII. 17 Bußtag: 22. März 1795 = Judica. 25ff. Nach B hatte Wernlein seine frühere Absicht, die Mumien zu rezensieren (s. zu Nr. 38), aufgegeben, da er sich — auf Veranlassung vonChristian Otto — entschlossen habe, keine Schrift eines Freundes öffentlichzu beurteilen. 32 kollaborieren: Anspielung auf Wernleins Kollaboratur,vgl. Bd. I, Nr. 348†. Berliner Bibliothek: s. zu Nr. 76. 36ff. Gemeintist das Heroldische Haus; vgl. Nr. 82.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_79.html)