Von Jean Paul an Caroline Richter. Berlin, 30. Oktober 1800.

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Brieftext

B[erlin] d. 30. Okt. 1800.

Schöne Seele! So unpartheiisch und kalt, als hätt’ ich Sie nie
gesehen, wil ich Ihnen die Antwort meines Gewissens geben. Sie ist:
Sie dürfen sich trennen und Ihr H. Vater hat Recht.

Jede Liebe fodert eine, und die gröste die gröste. N. sezte durch seine
Ihre voraus; und hier ist nur eine zweifache Wahl. Entweder Sie
sezen durch die lange Ehe den Schein Ihrer Liebe fort — aber diese
lange zerrüttende Heuchelei kan die Moral nicht verlangen, sondern
nur verbieten (und das Dasein der Liebe kan sie nicht gebieten, da
Neigungen ausser unserer Wilkür liegen) ja der Gegenstand selber
müste sich durch ein solches Opfer beleidigt finden — Oder Sie be
kennen ihm den bisherigen Schein und die Schwierigkeit der Fort
sezung. Ein Wesen, das dan doch das liebe-beraubte Herz an sich reissen
könte und das seine Befriedigung mit fremder Entbehrung erkaufte,
handelte in demselben Augenblikke unmoralisch und schiede sich
also; denn einseitige Liebe ertheilt keine RechteDenn sie an sich ist kein Verdienst sondern ein Genus; ausser durch Thatenund Opfer. ; wie schlim wäre
sonst jede schöne Gestalt daran! Blos einmal hatten Sie gefehlt
und jeder Fehler zieht so lange Verwirrungen durch das Leben — daß
Sie nämlich nicht anfangs Ihr Herz dem N. gezeigt wie es war,
sondern daß Sie ihn blos zum Arzte Ihres Herzens d. h. als Mittel
brauchten. Sie können kein Wort zu halten brauchen, das eine halbe
Unwahrheit war und das eine fortdauernde fodert. Wenn die Ehe ge
schieden werden kan: so mus die Liebe noch leichter geschieden werden
können.


Alles was Sie noch von N. sagen, bejahet meine Meinung. „Wer
fest auf der Erde klebt und auf ihr seine Seeligkeit erwartet“ warlich
dieser verträgt eben leichter den Verlust der schönern Seele als diese
den ewigen der hohen Liebe, ohne welche die Erde eine abgemähte Aue
ist. — Ferner: wenn jezt schon in der freien blumigen Jahrszeit der
Liebe „die gröste Selbstüberwindung“, „ein baufälliges Gebäude der
Glükseeligkeit“, „verschobene Verhältnisse“, „Misverständnisse“ ein
treten: wie mus das fürchterlich in der strengern Ehe, in der ewigen
Wiederkehr der Mistöne und durch die Fortdauer der Gegenwart
und durch die Unmöglichkeit der Änderung fortwachsen. Sie werden
und machen unglüklich, Karoline. Hoffen Sie nicht, den Man
hinaufzuziehen; das kan kein Weib; umgekehrt der Man zieht dieses
hinauf oder hinab. [ Lücke ] „die Abwesenheit von drei Wochen“ auf
der einen Seite und „das Erschrecken über das Ablaufen derselben“ auf
der andern — dazu der Wille des Vaters — die Hindernisse der bürger
lichen Verhältnisse, die nicht blos Sie allein verwunden, alles ruft
Sie von einem Altare weg, wo Sie Ihr Herz und Ihr Glük einer
Gottheit opfern, die keine für Sie ist.


Das alles sagt Ihnen blos kalt mein Gewissen, das Sie fragten
und das allein hier die Stimme haben durfte. Leben Sie wohl, gute
Seele!


R.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 3½ S. 4°; ein Stück ist abgeschnitten. J:Denkw. 2,274×. B: IV. Abt., IV, Nr. 16. 13,11 zweifache] aus dreifache 14 derLiebe] aus derselben 15 ja] aus und 16 durch ein solches] aus mit einemsolchen 20 Augenblikke] aus Augenblik 21 wie bis 22 daran!] nachtr. 23 so] nachtr. 27 das eine fortdauernde fodert] aus als eine fortdauert 14,5 der Mistöne] nachtr. 10f. auf der andern] nachtr. 12 allein] nachtr.

Karoline hatte „nach einem entzückenden Abend bei ihrer Mutter, woder Blitz seiner Liebe ihr hell leuchtete“, Jean Pauls Urteil angerufen,ob sie sich von ihrem Verlobten (nach Spaziers Angabe einem Vetter namens Felisch oder Felix), für den sie eigentlich nie wahre Liebe gefühlthabe und mit dem sie sich seit ihrer Begegnung mit Jean Paul vollends nicht mehr verstehe, trennen dürfe. Ihr Vater habe sich für die Aufhebungdes Verhältnisses entschieden.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/IV_15.html)