Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Meiningen, 21. Juli 1801.
Brieftext
Geliebtester Bruder! Gäb’ es nur ein anderes Mittel, Briefe von
dir zu haben, als durch Briefe — ich scheuete keine Kosten; und doch
schreib’ ich dir die längsten und willigsten. Nur versandet
meine
epistolarische Dinte stets — aus 100 Gründen;
wozu die vorige
Sandgegend selber gehört, aus der ich mit
meiner Frau hieher zwischen
diese grünen Berge zog. Diese, der Geld-cours, und das bittere Bier
wiesen mich hieher auf —
solange Gott und ich wil. Meine Caroline ist
nichts als die pure lautere, gar mit keinem Ich behaftete,
eines nicht
einmal bekriegende Liebe — troz ihrer
philosophischen Bildung durch
Kiesewetter, der ein Lehrer des
k[ategorischen] Imperativs und
lustiger Schüler der Glükseligkeitslehre ist —; ich finde durchaus gar
keinen moralischen Flecken
an ihr und liebe sie als Man noch mehr
denn als Liebhaber. Was
helfen solche Wirthshausschildereien? —
Genug ich habe
das bestimt, wornach meine irrende und schmachtende
Natur
solange sich umhertrieb, daß ich am Ende über eignen und
fremden Werth in den zweiten und — dritten Irthum gerieth und
mehr an meiner als fremder Liebe verzagte. — Die Menschen hier
sind anspruchslos und gut. In der Ehe ist eine Einsiedelei schon ein
Visitenzimmer. Ich diniere und soupiere jezt täglich bei meiner
—
Frau; zu Thee und Kaffee werd’ ich von — Büchern
gebeten.
Möge mein Aufsaz für das Taschenbuch recht gewählt und ge
macht sein! — Mit Fichte kralte ich mich
oft 6 Stunden lang herum.
Seine Achtung für dich hat er im Anti-Nikolai wogegen jezt Nikolai (ein noch schlafferer Mensch als Autor) eine
parziale
Sündfluth — die selber die Sünde ist — aus dem
Dintenfas schüttet.
bekant. Aber wäh
rend er andern das Nicht-Verstehen seiner
Dogmen vorrükt, fält
er ins ähnliche der fremden. Ich hab’ z. B.
gegen meinen kantischen
Schwiegervater, der Fichten fichtisch zu reden schien, 30 Champ[agner]
Bouteillen gegen 1. gewettet, daß F. ihn falsch in sein
Ich übersezt
habe — und gewan auf ein zweites Fragen. Hier
liegt ein Blätgen von
ihm. Er ist als Mensch liberal und sanft, ja sogar temporisierend;
und seine Zunge ist keine so grosse Dialektikerin wie seine
Feder. —
Alles von Reinhold les’ ich jezt froher als sonst. Der
Beitrag von
Köppen hatte für mich tiefer hinein immer mehr Gold, oben
etwas
Blei. Der Aufsaz im Merkur ist ein Trokar-Stich in die
Klee-Auf
blähung der Zeit; ein wahres götliches
Wort an alle Engel, die zu
Teufeln fallen wollen durch
Hochmuth. Allerdings ists eine Predigt
über deinen Text p. 35 im Briefe. — Lies Schleiermachers Predigten,
kein gemeines Herz hat hier seine Kanzel und kein hölzerner h.
Geist
schwebt darüber; ich achte den freien, das
Götliche in der Philosophie
nur achtenden, und vielsinnigern
Menschen (als Fichte ist). —
Wenn schenkt mir Gott den Genus Eines philosophischen Blattes
von dir, es sei gedrukt, oder geschrieben oder geschmiert oder unleser
lich? Bruder, gieb! — Herder (ich antworte immerfort auf deinen
Brief) erbietet sich froh und eifersüchtig zur Edizion
Hamans, wenn
du ihm die Reliquien schikst; er wil eine Vorrede dazu machen,
und
hinter jedes unveränderte Stük eine Nach-leitung. Thu’
es nur einer;
aber giebst du, so mache ihm die schnelleste
Herausgabe zur Bedingung.
— Mein Freund, bei 750 abgesezten
Exemplaren von einem so philoso
phischen Briefe wie deinem mus Perthes nicht sagen nur sondern
schon.
In Weimar hab’ ich verlernt, über die hippelsche Koppelhut des
Engels und Teufels zu erstaunen. Es liegt in der (dichterisch
oder
philosophisch) darstellenden Natur; mein Roquairol hat
jene ganz, und
ich kan dich über diese doppelten Handelsbücher im
menschlichen Herz
auf einen recht guten Autor verweisen, der
meines Wissens diese
Besonnenheit der Sünde tiefer und
fürchterlicher als einer gemalt —
auf dich im Alwil. Aber doch
sind 2 Entschuldigungen noch da: 1. Die
Kentnis der Sünde ist ja im Moment in jedem Sünder (sonst
wär’
er keiner) gleichviel ob er nun dabei handle oder
schreibe; und im
kleinsten ächten Fehler ist der dümste Matrose
ein Hippel — H. wird
sagen, sol ich
denn noch unmoralisch schreiben und fühlen, da ich schon
so
handle? — 2. Bei einer grossen Kraft ist das Gefühl der Freiheit,
also der möglichen Umkehrung stärker; sie fühlt sich dem Himmel
und
der Hölle näher — Und doch da bei derselben Kraft der
Freiheit auch
die niederziehende Einwirkung des unmoralischen
Gegengewichts kleiner
sein müste, und der Mensch doch sündigt —
und Helle des Bliks eben
so stark für als gegen Tugend wirkt; so
wie auch die Stärke, die
Schwäche, die Sinlichkeit und
alle Prinzipien der Heteronomie: so
bleibt nichts zur Erklärung
der Unmoralität übrig als das Unerklär
liche, das Radikalböse, der Teufel. Etwas, was wir — nicht an andern
sondern — an uns selber hassen und finden ohne Beziehung und
Grad,
mus doch etwas Positives dem
ich gleichwohl meinen alten Einwand entgegenseze, daß wir zwardas
Gute als Gutes, aber nicht das Böse als Böses wollen, sondern dieses nurals fatale Bedingung des an sich neutralen Glüks.
sein, oder die Tugend wäre selber nichts
Positives.
[
gestrichen:
Apropos! neulich fand ich zu meiner Freude, daß nicht
das
irdische]
Was ich schreiben wolte, wäre zu lang geworden. — Verzeih den
—
nach dir — eilenden Brief. Schicke mir bald etwas von dir, nicht
blos an mich. Auch schreibe mir sogleich das Dasein des 3.
Rein
holdischen Hefts, auf das ich seiner
Antagonisten wegen, sehr lauere. —
Lebe wohl, Herlicher!
Vergieb mir Reden und Schweigen. Gieb deinen
Schwestern einen
rechten wahren Grus von mir.
Mein Schwiegervater schikte mir Fichte’s Schreiben auf seines —
oder meinen Sieg, wodurch ich Champagne nicht verlor — gieb es
aber niemand als mir bald. — Schreibe mir etwas über
meine
Scripta novissima. — Ich wolte dir einen viel gescheutern
Brief,
zumal über Hippel,
zufertigen; aber die Eile — die Flügel am
Musenpferd helfen nicht zugleich zur Schnelle und zur Höhe. —
Adio carissimo!
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/IV_168.html)