Von Jean Paul an Johann Wilhelm Vogel. Leipzig, 3. November 1781.
Brieftext
Verzeihen Sie, daß ich schreibe, ohne durch eine Antwort auf
meinen lezten Brief die Erlaubnis dazu zu haben. Sie fügten bei
meiner Abreise zu den vielen Woltaten noch die gröste hinzu,
daß Sie
mir erlaubten, an Sie zu schreiben. Ich bediene mich
ihrer; ich schäzze
sie um soviel höher, da sie mir Gelegenheit
zur Erfüllung einiger
Pflichten giebt. Gewis! man liebt das am
meisten, dessen Wert uns
durch den Verlust fülbar wird
— man schäzt am meisten die Woltaten,
wenn man nicht mer für
sie danken kan und wünscht am eifrigsten die
Pflichten zu
erfüllen, die man nicht mer erfüllen kan. Darf ich es sagen,
darf ich es mit Hofnung auf Ihren Beifal sagen, daß ich füle, wie viel
ich Ihnen schuldig bin, ie weniger ich Gelegenheit habe, es
Ihnen zu
zeigen, und daß
[mein] Wunsch wächst dankbar zu sein,
iemer gewisse
Umstände den Schein des Gegenteils verursachen.
Ich befürchte einen
Teil der Liebe verloren zu haben, der Sie
mich würdigten, da die
Sache mit dem [H.
Kammerrat] eine solche Wendung
[genommen],
die mich dem Verdacht aussezt, Sie mit einem leren Versprechen
ge
täuscht zu haben. Allein die
Sache ist anders, als sie scheint. Der [H.
Kammerrat] war diese Michaelismesse hier; ich sprach mit
ihm davon;
ich sagte alles, was ich sagen muste und konte; ich bekam die
Antwort
„man mus den Klingsor nach und nach weg bringen“, „man
mus
„warten, bis er einen Feler macht.“ Sie wissen, wie ungern sich
die
Alten zu ieder Veränderung bequemen, wie sie alles
das für’s beste
halten, was sie am längsten gehabt haben, und
wie ihr gewönlicher
Argwon und ihre unnötige Furcht sie zu
iedem raschen Entschlus
unfähig
[machen] — Sezzen Sie hinzu, daß der
Klingsor iezt gerade
eine Zeit nicht Klingsor ist, d. h. daß er
nicht dum handelt, und daß die
Mittelmässigkeit erträglich wird, wenn man sich erinnert, daß
er vorher
noch schlechter war — Bedenken Sie dies, und Sie haben
Sich alles
erklärt. Allein ich wil die Sache mit ihm durch
Briefe betreiben, wo
man am meisten den Schein vermeiden kan,
ihm einreden zu wollen;
sprechen Sie etwan
[?] einmal selbst mit ihm, wo Sie seine
schwachen
Seiten eben sobald kennen lernen, als er durch
Ihre vorteilhaften
wird eingenommen werden. Ich ermüde Sie; ich
schliesse. Nur noch
eines. Beeren Sie mich in’s Künftige mit
Ihren Briefen, die mir
eben solches Vergnügen verschaffen, als
Ihnen vielleicht die meinigen
Ekkel erregen; hegen Sie noch
ferner die gütigen Gesinnungen gegen
uns, die wir mer
Ihrer Menschenliebe als unsern Verdiensten zu
danken haben;
verteidigen Sie noch ferner die, die eben so viel von
Ihnen
hoffen, als sie Ihnen schon schuldig sind; sein Sie der Vater
derer, die keinen Vater haben und einen so nötig brauchen; beschüzzen
Sie die, die ohne Sie dem Spotte iedes Boshaften, der Verachtung
iedes heimlichen Feinds und der Unterdrükkung iedes
Mächtigen aus
gesezt sein würden; vergeben
Sie die Feler, die dieselbe [?] Schwach
heit, aus der sie begangen worden,
verzeihlich macht; helfen Sie denen
mit Ihren Talenten, denen
durch keine andern als die Ihrigen ge
holfen
werden kan und reissen Sie im Gegenteil denen den Sieg aus
den Händen, deren Sache so schlecht ist wie ihr Verteidiger. Wir
können Sie nicht belonen; aber der kan Sie belonen, der auch
Ihre
Kinder glüklich machen kan. Wir können Ihnen nicht die
Früchte
Ihrer Arbeiten erteilen; aber Ihr Herz kan’s, wenn’s Ihnen
sagt:
du hast edler gehandlet als ieder andre Tugendhafte — etc.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_16.html)