Von Jean Paul an Johann Bernhard Hermann. Leipzig, 9. Januar 1782.
Brieftext
Ich schrieb Ihnen zeither nicht, weil ich Sie bald in Leipzig zu
sprechen glaubte; iezt
[schreib’] ich, weil ich das Leztere
nicht mer
hoffen kan. Ihr Entschlus, ein Apoteker zu werden,
hat alle Ihre
Freunde in Verwunderung gesezt; alle begreifen
die Ursache Ihrer
iäligen Veränderung nicht, und alle
schreiben, um Ihnen das zu sagen,
was ich Ihnen iezt
sagen wil. Weder die Schwierigkeiten, die Sie in
Ihrem Studium
zu überwinden haben, noch die Bequemlichkeiten,
die aus Ihrer
neuen Lebensart entspringen, scheinen mir gros genug
zu sein,
Ihren Entschlus zu rechtfertigen. Sie erblikken von Ihrer
vorigen Lebensart nur die Ihnen bekante Seite, und diese ist freilich
nicht die angenemste — Sie sehen aber auch in Ihrem iezzigen
nur
dieienige Seite, die bei weitem nicht die gewönlichste ist,
und die Sie
überrascht, allein eben darum auch betrügt. Stellen
Sie Sich Ihren
künftigen Zustand vor; allein weren Sie Ihrer
Einbild[ungskraft], ihm
Reize beizulegen, die nicht die seinigen sind, und die selten,
oft blos
durch das Ungefär, an ihm wirklich werden. — Sie
verlieren Ihre
Freiheit, die Sie noch nicht schäzzen können,
weil Sie sie noch nicht
vermist haben und deren
Vortref[lichkeit] Sie erst ihr Verlust
leren
wird. Die Freiheit ist überhaupt, wie vieles andre, ein
Gut, dessen
Dasein weniger Vergnügen bringt als seine
Abwesenheit Schmerzen. —
Ich weis nicht, ob Sie an Handarbeit
gewönt sind; aber das weis
[ich], daß sie Ihnen beschwerlich sein
wird, sobald Sie sie aus Zwang
tun müssen und sobald sie durch
die öftere Wiederholung Ekkel, Ein
förmigkeit
und Ermüdung verursacht. — Haben Sie bedacht, was Sie
waren, und was Sie werden wolten? Ein Sprung von einem Studen
ten zum — herab? Würd’ ich Sie nicht beleidigen, wenn ich
auch nur
den Namen dieser Sache hersezte? Ich mache mich soviel
als möglich
vom Einflusse der Urteile andrer unabhängig; allein
so viel könt’ ich
nicht ertragen, was Sie ertragen wollen, und
was Sie, wenn Sie
studirten, bei der
unvolk[ommensten] Veränderung Ihres
Glüks nie
zu ertragen würden nötig haben. Ihre Freunde können
sich die Behand
lung, die Sie iezt von
andern erwarten müssen, one Widerwillen [?]
kaum denken; und Sie, Sie wollen sie leiden? — Sie müsten mer oder
weniger Herman sein, um
sie one — Reue und Widerwillen [?] zu
leiden. — Daß Ihre iezzige Lebensart für die Gesundheit
gar nicht
vorteilhaft ist, daß das immerwärende Einziehen
schärf[ster] und
schädlicher Dünste und der Reiz feiner und
schärf[ster] Pulverteilgen,
der Lunge nicht zuträglich sein kan, und daß die Zubereitung der
Gifte
oft eben so schädlich ist als ihr Gebrauch — dies mag ich
kaum er
wänen. Aber daß Sie zuviele
Jare haben, um lange Zeit blos die
Arbeiten zu tun, die blos
für ein geringes Alter gehören — daß Sie
auch als Geselle noch
tausend Beschwerlichkeiten ausgesezt sind, und
daß Sie es immer
bleiben, bis Sie eine Apoteke bekommen, die so
selten als teuer
ist; daß die chemischen Versuche des H. Fischer, die Sie
so unwiderstehlich hinreissen, nicht unausgesezt
fortdauern werden,
und daß dies Studium selbst mit der Zeit von
Ihnen mit mer An
strengung
[?], Volkommenheit
[?] etc. würde können getrieben werden,
wenn Sie Medizin studirten — dies bedenken Sie; vielleicht
finden
[Sie mer], als ich Ihnen sagen kan, um
Ihren Entschlus wankend zu
machen; vielleicht sehen Sie
die schlechte Seite Ihres angefangenen
Lebens in demselben
Lichte wie vorhin ihre gute; und vielleicht lernen
Sie die
Übel fliehen, eh’ es zu spät ist, sie zu kennen. Und was opfern
Sie diesen Beschwerlichkeiten [?] auf?
nicht viel weniger [?] als Ihr
Glük. Sie verlieren [für
Dinge], die für Sie die Reize haben, die sie
blos für fähige Köpfe haben — die Zeit und die Zeit, die Sie
ihnen
gewidmet haben, ist verloren, und Sie werden iezt durch
unbedeutende
Dinge beschäftigt, um wichtige zu vergessen
— Ihr Verstand, der
sonst von selbst der Warheit sogar bis in
ihre geheim[sten] Winkel
nachfolgt, mus ruhen, damit Ihr Gedächtnis die Zeichen zum Zu
sammen[sezzen] der Rezepte behalte,
und das Selbstdenken geschieht
immer seltner, ie seltner
Gelegenheit und Anreiz [?] sich dazu
findet. — Das Vergnügen, das aus der Entdekkung und
Betrachtung
der Warheit quilt, vertauschen Sie mit dem, nach
vielen, umsonst an
gestelten chemischen
Prozessen endlich ein besonderes Phänomen
bemerkt zu haben,
Ihre guten und vortreflichen Talente schlummern,
um die kleinen
und gewönlichen zu beschäftigen, und alle die Ere, die
[Sie] sich durch Ihre Gaben verschaffen
könten, erlangen Sie gar
nicht, oder sparsam, oder dan, wenn
Ihnen der Genus mer gekostet
hat als er wert ist — Sie
verlassen Ihre Freunde, um [denen,] die
Ihnen befelen, zu gehorchen, und für die süssen Bande der
Freund
schaft wälen Sie das Joch eines
Hern — Aus dem Zirkel von kleinen
Ergöz[zungen] fliehen Sie in eine
Apoteke, wo Sie nichts ergözzen
kan als die traurige Erinnerung
der vorigen Freuden, der vorigen
Zusammenkünfte — — Sol ich mer
sagen? Allein vielleicht mal’ ich
Ihnen einen Zustand mit
schönen Farben ab, den Sie verlassen müssen,
weil Sie das sind,
was gemei[niglich] die sind, die es zu sein
amwenig
sten verdienen — arm.
Allein dies ist das geringste Übel, das ich bei
dem kenne, der
Kopf hat. Bevölkern Sie nur nicht, durch eine ein
seitige Erfarung verfürt, die Welt mit lauter Kaufmansselen
und ver
r[ingern] Sie nicht in Ihrer
Einb[ildung] die Anzal der
B[eförderer]
der Wissenschaften
[?] so ser, als klein Sie sie in den
Ihnen bekanten
Orten gefunden haben — und machen Sie
nicht aus iedem Plaz in
der Welt ein — Hof. Durch Informiren
kommen Sie fort, welches die
grosse Anzal der armen Studenten hier ernärt. Ihr schönes
Gesicht
dient Ihnen stat eines schönen Kleids zur besten
Empfelung und Ihre
Sitten und Wissenschaften
[?] erhöhen die Belonung, die Ihr Ver
stand und
[Ihre] Arbeiten empfangen. Sie werden
Sich die Liebe
der Professoren erwerben; Sie werden durch ein
T[estimonium]
P[aupertatis] alle
Kollegien frei bekommen, und in kurzer Zeit
werden Sie das Glük
geniessen, das Sie verdienen, das Sie iezt
fliehen, das Ihnen
Ihre Freunde wünschen. Und verdient nicht das Glük,
das Sie
nicht zu erlangen hoffen, die Arbeiten und die Beschwerlich
keiten, die Sie iezt einem kleinen und ungewissen aufopfern?
Ich schliesse. Können meine Gründe die Stärke Ihres Vorsazzes
nicht schwächen; so können sie doch einen kleinen Beweis meiner Liebe
gegen Sie abgeben, die ich sonst nie an den Tag legen konte, die
ich
aber wünsche durch
deutl[ichere] Proben darzutun. Antworten
Sie mir
wieder, wenn Sie Zeit und Lust haben, und sein Sie das
gegen mich,
was gegen Sie nie aufgehört hat zu sein
etc.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_19.html)