Von Jean Paul an Johann Bernhard Hermann. Töpen bei Hof, 20. Mai 1788.
Brieftext
Aus übertriebner Liebe für deine
Disput[azion] send’ ich den Theil
vom Athem, den ich so eilig durchflog, daß ich im eigentlichen
Sin kaum
den meinigen mehr ziehen konte. Die übrigen Theile
wirst du hoff’
ich unter Jahr und Tag (du müstest denn
eher nach Hof zurükkehren)
nicht zu sehen bekommen, weil ich dir einige Briefe abzuknikern
vor
habe: ich erzürne dich um dich zu
lesen, wie man den Affen auf dem
Kokosbaum tol macht, damit er
mit Kokosnüssen um sich werfe.
Das angenehme und schweinische Sediment in deinem Briefe schreib’
ich blos einem Nerven vom 5 Paare zu, der die Lippen und die
Geschlechtsglieder zusammenkettet; es ist nicht deine
Schuld, wenn
die Bewegungen der leztern über die der erstern
gebieten und der
Datum rechtfertigt soviel, daß ich mich sehr
wundern würde, wenn
die Worte nicht der Anfang wären, sondern
der Beschlus. Die
Gelegenheit hat hinten keine Haare:
du wirst sie vorn fassen und
lieber deine eignen aufopfern.
Ich bin des Teufels, wenn ich nicht einmal deinen ganzen Karakter
in einen Roman pflanze: aber bringe mir bei, wie ich dem Leser
die
Wahrscheinlichkeit deiner Zotenmanie beibringe? Es wird
ieder
sagen, ich soutenirte den Karakter zu schlecht
und zwänge die un
[gleich]artigsten Züge zusammen.
Ich wil nicht mehr von sondern wie
Weiber reden... ob du nach
Erlang und nach dem Doktorhut gegangen — Erwäge, was ich für
dich aufgeopfert, nämlich die Wahrheit — schlage an dein
histerisches
Herz und gestehe, daß du meinetwegen
zwar auch oft die Wahrheit
aufgeopfert aber auch zugleich mich
mit: oder vielmehr du hast mirs
ia schon selbst gestanden...
thut die ottoische Frage troz aller Ver
anlassung nie an mich. Er dankt seinem
Got, daß die Bürde deiner
Unterstüzung schon auf irgend einer
wolthätigen Schulter sizt und
seine verschonet hat und
er mag gern um den Namen dieser Schulter
nichts wissen. Er
befürchtet irgend eine auffodernde Schilderung
deiner
Bedürfnisse. Diese Kleinigkeiten, diese lilliputischen Annalen
müssen dich ganz interessiren. Denn dich laben blos entweder
die
wichtigsten Wahrheiten oder die erbärmlichsten Sagen und
du bist wie
die Lerche entweder singend über den Wolken oder
nistend in einem
Drekloche auf der Erde. Schreibe mir nicht
blos was du erfährst
sondern auch was du denkst und was andre
Neuestes oder Schlimstes
denken. In Rüksicht der
Krankheitsgeschichte: so versehe ieden Brief
mit einer und ahme
mich [nach,] der ich dir iezt erzähle....
Aber dich
interessiren fremde Lagen wenig hinter deiner langen
Maske von
theilnehmender Höflichkeit. Ich komme täglich zu
neuen Gründen
deiner Meinung, daß Hypochondrie die
Nerven zu Protoplasten und
die Eingeweide nur zum Mitleiden
habe... Vertraue auf die glänzenden
und breiten Flügel deines
Kopfes und möchten sie dich nur über das
todte Meer wegtragen,
damit du nicht da geistigtod hineinfällest und
als Stadtarzt andre lebendig und dich tod erkurirst. Las dir
von
deinen Bedürfnissen nie die Elastizität der Seele
stehlen; denn wenn
du einmal Herman bist, so wirst du dich
ärgern, daß du einmal ein
Anti- oder Pseudoherman gewesen,
wiewol nie gegen deinen Freund.
— Verzeihe mir die 4 Hände und
ich vergebe dir den 11 Finger und
den vorhergehenden
Handschuh.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_220.html)