Von Jean Paul an Johann Bernhard Hermann. Hof, 23. September 1789 bis vor dem 30. September 1789.
Brieftext
Alle Vorreden fangen an: geneigter Leser; aber diese
[?] mus sagen:
ungeneigter Leser. Denn du bestrafst mein Stilschweigen hart durch
deines und die Busse ist grösser als der Fehler. Kontest du
denn keine
Entschuldigung für mein unnatürliches Schweigen
aussinnen und
mustest du ihm gerade die unnatürliche
Ursache leihen, die dich zum
Erwiedern trieb?
Kontest du nicht denken, Richter sizet in Haft bei
Engelh[ardt], oder hat das Chiragra
(wie Trog[enprediger] das
Podagra) oder einen Wurm im Finger oder ist gar tod? Bei
solchen
wahrscheinlichen Vermuthungen hättest du doch
bleiben sollen, eh’ du
zur unwahrscheinlichen der Kälte
oder des nicht [?] griffest. Aber lese
die folgenden Blätter: so wirst du sehen, daß ich
Briefe an dich wenn
nicht schikte doch immer schrieb und
zweitens was für ein Segment
der heissen und kalten
Kometenbahn mich das Schiksal bisher be
schreiben lassen. —
Töpen den 4 Apr.
Guter, scharfsichtiger, glüklicher und glüklichmachender Freund,
und auf der andern Seite wieder
[?]
Närrischer blinder, hypochondrischer Selbstfeind.
Haller [erzählt]: ein gewisser Kerl habe
sich in den Kopf gesezt, er
habe keinen und daß man ihn durch Aufladung eines bleiernen
Hutes
herstelte. Den Kerl hab’ ich genau gekant,
mein lieber Herman; es
war aber ein ausserordentlicher
Spas. Ich war oft dabei, wenn der
Bader Riedel zu ihm kam,
um ihn auf den Sontag zu rasiren: „ach
lieber H. Riedel, es wird da wenig zu scheeren geben, denn
es fehlt
mir leider der Kopf und was wollen Sie einseifen?“
Kam der Friseur
Weil[er]: so sagt’ er: „wenn Sie
nicht die Luft um mich oder meine
Achselhaare frisiren wollen: so sind Sie und Ihre
Kämme unnüz;
denn ich hatte wol Haare und hübsche dazu: aber
mit dem Kopf
giengen sie kapores und es ist freilich ein
Jammer.“ Er schrie oft:
„mir sind alle Schnupftücher unnüz
und alle Brillen und alle Zahn
stocher
und alle mod[ischen] tollen Hüte — aus
ganz bekanten Ur
sachen.“ Noch
närrischer als diese Narheit war der Anlas dazu und
ich
wundre mich oft darüber (über deine Gleichgültigkeit hast du Be
schwerden, wiewol nicht Beweise geführt)
— Ich fahre fort, aber
gewissermassen besoffen oder
vielmehr berauscht — nicht von den
Reizen,
[der griechischen Nase und]
feingeschlängelten Mundeslinie —
sondern vom Hirschberger Bier. Besagter Kerl hatte
nun einmal eine
Eiterdrüse im Nakken und darüber diesen physiologischen
Sorites in
der 4ten Gehirnkammer:
„besagte Kammer ist dem Nakken unendlich
näher als die 3
andern; frist nun das Geschwür tief und weiter oder
bis zur
4ten Kammer: so ists mit allen Nerven, die den Kopf
beseelen
und wässern, völlig vorbei und der arme
Kopf fault mir so gut ab als
läg’ ich im Erbbegräbnis oder
als hätt’ ich Mutterkorn gefressen,
wovon almählig sich die
Füsse abtrennen.“ Und dafür hätt’ er seinen
Kopf zum Pfand
gesezt, daß er ihm abgefallen: bis man ihn mit
soviel Blei
befrachtete, daß er das Dasein seines Kopfs wie die
Apperzepzion seiner selbst von der Empfindung lernte. — Sonderbar
ists, daß ich in Hof (iezt lebt er, wenn ich recht höre, in
den Landen
deines Königs) einen Genieman gekant, der eben so närrisch
als sein
König aber 100 mal klüger war. Dieser hatte die nämliche
fixe Idee.
Denn in Briefen vol Wiz etc. klagt’ er, daß er
alles das eingebüsset…
ich schrieb ihm, wie einer
eine Liebe verloren habe, die ihm noch werth
ist und die er
betrauert —
ich bewies ihm, daß dieses Gefühl nie verloren wird, am wenigsten
wenn man sich über dessen Verlust betrübt. Inzwischen wollen
wir
Got danken, daß wir unsres Orts nicht an diese
hypochondrische
Klippe fahren und viel vernünftiger von
unserm grossen Werthe
denken... Ein langer, ein trauriger
Zwischenraum stelte sich zwischen
ienes und dieses Blat … ist der Sultan der Sultanin —
Joerdens
respicit finem der Pazienten und haut mit
[dem] Todtenkopf auf der
schwarzen Husaren Doktormüze unter die Edelleute siegend ein
— der
klebende summende Nachtschmetterling fliegt um eine
neue Jungfer
blume — Oerthel muste, nachdem er
sich und seinen Wald diesen
harten Winter hingefristet, aus
Alimentenmangel seinen ihm so
theuern Hofmeister abdanken
und kan nie mehr daran denken, einen
neuen zu bestreiten;
wie wol der Vater selbst den Hofmeister ganz gut
ersezen
kan: denn ein Hofmeister ist nicht blos der 2te Vater sondern
auch der Vater der 3te Hofmeister....
So sieht der Schmerz aus und mit solchen Marterwerkzeugen
bohrt er sich in unser gequältes [?]
Herz ein.
Dein Vater, dessen Brief ich einschliessen wolte, schliesset, müde
meines Aufschubs, meinen ein. Ich wil nur einige
historische Figuren
konstruiren... Denn ich habe recht
Recht und hoffe dich zu einem Rene
gaten
zu machen. Du sagst: / 1) Empfindet denn meine Seele, um die
Anschauung der Sonne zu kriegen, nur 1 Atom oder mehrere nächste und
ist sie denn nur in 1 oder in mehrern Punkten berührbar? 2)
Wenn
ieder Atom in der Ätherlinie nur den Zustand
des andern, nämlich die
abgespiegelte Sonne empfindet: so
ist diese Reihe Spiegel unnüz, von
denen einer (mit
Auswerfung der ganzen Reihe) mir eben so gut die
Sonne
gezeigt hätte; so haben alle diese ungleichartigen Wesen die
nämliche Vorstellung; so zeichneten sich in meiner Seele die äusseren
Gegenstände troz den die erstere umringenden konvexen und
konkaven
Gläsern (Sinnen) eben so ab wie im nakten Atom
ohne Sin. 3) Und
wienach hat denn der nächste Atom an der
Sonne eine Vorstellung von
ihr, die ihm doch von keinem
Mittelsatom überbracht wird? Die
Sonne selbst, die nicht
sich so denkt wie ich sie mir, giebt sie ihm nicht.
Empfindet der Atom also nicht etwas anders als die Empfindung eines
nahen Atoms? 4) Natürlich gesteh’ ich, daß er nur den
Zustand des
nächsten Atoms (welches aber etwas anders ist
als dessen Vorstellung)
empfinde, welcher Zustand vorgestelt ganz anders aussehen mus
(wegen der verschiedenen Rezeptivität der empfindenden Wesen) als
selbstempfunden; etwas anders ist der Zustand des Tisches,
[etwas] anders die Vorstellung dieses
Zustands. — Der Hausarzt lebt
nicht länger als seine Pazienten — wechselten Kugeln, um
das Blei
ihrer Köpfe mit noch besserm zu legiren — verlor
den Finger, den
Diebe ihm als Diebsfinger mausen solten —
Die elastische Luft wird
die Federn deiner Seele mehr
stählen als aller Trost. Ich habe dir noch
100 Sachen zu
schreiben. Die 101te ist, daß ich niemand so sehr liebe
als dich und mich.
— ich wil dich aus dem göttinger Ton in den höfer transponiren und
dich mit ganzem Leibe auf einmal in die skandalöse
Chronologie hin
einwerfen. Wir Höfer
serviren dir Kaffee und Birnen, die du den
folgenden Sprecherinnen abrinden must: „Und hier in Hof ists aus,
man redet in Geselschaft von nichts als von Leuten und das
kan nicht
christlich sein“ — aber die Nachahmung ekelt mich
wie die Anhörung —
lange zu deinem Lobe geläutet — spielte die
achselträgerische Rolle, die
du ausschlugst — hat sich
ehelich anastomosirt — da ich dem Otto
nicht abläugnen konte, daß der Mensch wie ein
ungebundenes Buch
ohne silberne Beschlag Klausuren nicht
gelesen wird.. Es ist aber das
eben so närrisch als das,
was eben ums Äquinokzium ein Namensvetter
von mir that, der
seinen seit[her] bindelosen Hals wieder
eingeschnürt
und seinen Kopf aus einem Haarkometen in einen
Schwanzkometen
umgeformt. Beide
[?] Richter danken Got und dir, daß
du nicht da
bist, weil du ihnen diese Übersezung des Leibes
aus dem Englischen
ins Vogtländische mit Händen und Zunge sauer gemacht
hättest — daß
Hume nur kurz vor seinem Tod Maien-Lorbeerbäume vor seine
Thür
für seine Polyhistorie und Polygraphie bekam. —
Er sagte, Lufttheilgen könten in Feuertheilgen stekken — welches aber
eine gelindere Auslegung leidet. Denn da die Seele aus Feuer
und
nach Neuern aus Elektrizität besteht und seine so viel
Luft befasset:
so mus das gröbere Feuer noch leichter
welche haben können... Gönne
dich deinem Freunde etc.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_281.html)