Von Jean Paul an Johann Bernhard Hermann. Töpen bei Hof, 8. Dezember 1788 bis Januar 1789.
Brieftext
Ich erhielt deine 2 Brieftaschen. Ich wil den heutigen beantworten,
weil er iezt mein Gehirn inne hat, und wie ein 2tes Chor oder
Anti
phonienweise antwortet ieder Zeile
von dir eine von mir. Dein Kuffer
[!] sezt mich in wahre Beängstigungen nicht
wegen seines materiellen
sondern hieroglyphischen und
philosophischen Inhalts, weil deine
Fötusse — daher du oft
Sachen verbrenst, die von niemand solten ver
brant werden als von einem Orthodoxen — mir angenehmere und ge
liebtere Schooskinder sind als majorenne
Geburten andrer Köpfe. Eben
so ärgert mich dein Geklage über
den Inhalt deiner Briefe, deren Ein
kleidung deinem Kopf von aussen ähnlich und deren Inhalt deinem
inneren Kopf gleich ist. Selbst deine historischen Einwebungen
sind
mir eben so interessant wie meine Geschichte, blos weil
dein und mein
Ich mich interessirt. Racine schlug ein Couvert
an der königlichen
Tafel aus, weil er einen Karpfen mit seinen Kindern zu essen
hätte;
die Philosophie ists Kouvert, und der Karpfe ist
eine historische Anek
dote. Und hier hast
du Karpfen.. Ich würde deine Schwester fast
heirathen, wenn ich mich nicht schämte dich dadurch mit zu
heirathen,
weil dein und ihr Gesicht = 1.... der moralische
menschenkennerische [?]
Gehalt desselben steigt in meinen Augen täglich — Apropos
(meinen
Brief web’ ich aus solchen und wie eine Idee
mir aufspringt, treib’
ich sie aufs Papier) du soltest kein
Buch über 1 Materie schreiben,
sondern dich zu einem zwingen,
wo du deine Paradoxien [in möglichster
Kürze] auf Frisuren und Perükken und Köpfe hageln liessest.
… Die
Zungenbänder der Göttinger Philosophen sind in den
zügelnden
Händen des Systems und den Kant hält man für einen Kometen,
auf
dem der iüngste Tag flamt und der die Himmelsstufen zum Spasse
auf
und niederspringt — Ich sorge, das wärmere Klima des
Schiksals
verzärtelt deinen Muth, dein Gehirn zu enthülsen d.
i. zu zeigen und
nicht durch Schritte sondern Sprünge das Glük
einzuholen. Wie
Michaelis den Reisenden Fragen mitgab,
deren Auflösung sie mit
bringen solten: so geb’ ich diesem Papier
Fragen mit. Woher ent
stehen die Winde im
Unterleibe — d. i. warum richtet sich die aus
den Speisen
entwikkelte Luft nicht nach der Menge von der in der
Speise
sizenden Luft sondern nach der Schwierigkeit und Länge des
Verdauens — und die ausser dem Unterleib, mit denen dein Graf
weniger zu thun hat? Wie können sie von gestörtem
Gleichgewicht der
Luft entspringen, da sie in den wärmsten
Ländern, wo Tagshize und
Nachtkälte wechseln, und im Sommer am
schwächsten sind und am
stärksten in den Äquinokzien? Wie
können sie stosweise wirken? Wie
können sie — diese
3te Frage thu’ ich am 1 Jenner, wo ich dir lauter
Feinde wünsche, damit dich niemand mit Wünschen geiselt —
schwach
anfangen und nach Stössen endigen? … wie wenn
[ich] verdünte
schaale Luft einsöge [?] — Wenn dein
Geschmak wollüstiger und regel
loser wäre:
so würdest du am Ende auf den Speisetisch deines Grafens
[!] gerade eine Antidiätetik hinpredigen
und das ists erstemal, daß der
Arzt Speisen verbietet, um sie
selbst nicht zu bekommen … Was dein
Graf deinem Magen nüzt,
nüzt er meinem Zwergfel und damit auch
ienem … da mich die
Umarbeitung meines Buchs abnüzt … Deine
Aufrichtigkeit, die dir keinen verstellenden Brief zulies,
begiesse und
belege mit Gartenerde: es ist das edelste
was noch auf dir Wurzel
treiben kan. Jede Verstellung ist ein
blasses wurmförmiges Kind der
Schwäche und alter Gebrechen.
Der beste Mensch könte sich schon
deswegen nicht verstellen,
weil er nichts zu verstellen hätte. Bei dir kan
ich Wiz,
Narheit, Dumheit etc. auskramen, wie ich wil: so vertraut bist
du mir und ich kan mir gar nicht denken, wie ich an dich
schreiben
müste, wenn ich dir sagen wolte, daß ich mit dir
bräche, oder wie du
mir das nämliche sagen köntest. Ich kan
die Universalgeschichte deines
fortgerükten Schiksals kaum
abwarten.. Die Federsche Behauptung
[daß nicht die Organe, sondern die Seele
empfinde] verdient dein
Urtheil nicht. Er macht sie blos gegen die Materialisten, die reden als
ob das Auge sähe etc. da doch, indes sich das ganze Leben das
nämliche
Bild auf der Retina entwirft, im Maler nach den
Fortschritten seiner
Kunst andre Gesichtsempfindungen
aufstehen. Selbst nach dir kan
nicht das Organ als Organ,
sondern nur als eine Monadensamlung
empfinden und insofern hat
das Organ 1000 Wesen und 1000 Empfin
dungen;
auf eben die Art kan unser Geist ein Theil höherer Organe
sein. Wenn du behauptest [das Organ habe]
die nämlichen Empfin
dungen, die es der
Seele giebt: so kanst du es erstlich mit nichts beweisen
und
zweitens durch welches neue Organ empfindet denn das Organ?
Wenn einmal irgend eine Monade eine Empfindung für sich bekommen
mus: so kans iede andre ohne ein Organ, das die Empfindung
zugleich
hat und erwekt. Deine philosophischen
Einschaltungen sind mir wil
kommen: aber
wenn du mir Gewächse dieser Art schikst: so schneide nur
nicht
die Wurzel vorher davon herunter: sonst sezet es sich nicht in mir
fest. … Ihre [der
Franzosen] Schreibverzerrungen sind nicht ärger als
unsre, die wir gar ein besonderes Alphabet für den Druk und
ein
andres für die Feder haben. Du wirst mir wenigstens
in Rüksicht meines
heutigen Schmierens Recht geben, hoff’
ich.
Er [Joerdens] hat durch das Intelligenzblat
sich um seinen Kredit
und Vorrang vor dem weissen geschrieben. Der Teufel holt in
dieser
medizinischen Diözes niemand als die Kranken... Der ehrsame
samtne
Tretscher hat sich mit dem lebenden Fleischfas
nicht gezankt, gerauft,
geprügelt — sondern verlobt... Es sol doch nicht wahr sein: um
so
wichtiger ists aber für uns beide, daß diese Verlobung und die
Un
sterblichkeit der Seele in ein
zuverlässiges Licht gestelt werde und es mus
bald geschehen...
Am Ende ists eine Grille von dir lieber in einem
gelognen als wahren Ort zu sein und ich sehe in Rüksicht deines Ruhms
keinen Unterschied zwischen
W[ien] und
G[öttingen]. Gleichwol liegt
dein Siegel noch auf meinem Mund: und auf deinem liegt auch
eines:
aber ich habe kein Recht zum Richterstuhl, weil ich
selbst nicht mit der
Schreibung sondern Volendung dieses
Briefs so lange gezaudert.
Schreib es meinem
abmattenden Brüten über meinen federlosen
Küchlein zu und sei stets der Freund deines Freundes.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_243.html)