Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Schwarzenbach a. d. Saale, 9. August 1790 bis 11. August 1790.

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Brieftext


[ Schwarzenbach, 9. Aug. 1790. Montag ]

— Ich beginne dieses Geschreibe 3 Terzien vor meinem aktiven
Examen, nachdem ich eine Maas Bier getrunken um zu visieren, ob die
figürlichen Köpfe meiner Seminaristen so vol sind als mein unfigür
licher. — Mein Herz ist noch voller von Ihrem Brief. O wenn Sie mir
vor 10 J[ahren] einen solchen geschenkt hätten, wo ich meine Arme
um ieden ephemerischen Freund so innig schlug wie iezt um einen
perennierenden — wo ich keinen Menschen kante, nicht einmal den
nächsten, mich selbst, alle aber liebte — wo ich noch glaubte, ein
Freund wäre so leicht aus der Glüks Zahlenlotterie zu ziehen als eine
Geliebte — wo ich aus dem Jugendparadies noch nicht geiagt war, aus
dem wir alle müssen und in das das Alter und die Erfahrung mit dem
blizenden und schneidenden Schwerte keine Rükkehr verstatten — ach
damals, wo ich die Sonnen- und Sommerflecken des weiblichen Herzens
und die Phasen des mänlichen nicht kante — wo meine ungetäuschte
Seele (ausgenommen von sich selbst) alle Seelen umschlang und ich
zugleich war 10 mal dümmer und glüklicher und närrischer und tugend
hafter.


den 10.

Ich möchte damals gethan haben, was ich wolte: auch iezt treibt
Ihr Brief mit seinen liberalen Aeusserungen mein Blut um 1 mal
öfter um. Der 9 und 10 August verhalten sich wie die beiden Lebens
Abtheilungen, die ich an beiden beschrieben: denn heute bin ich vom
gestrigen Vergnügen gelähmt und ausgepumpt.


Wie man nämlich von dem iüngsten Richtstuhl in den Himmel
übertrit: so wurde unser Examen mit einem Tanz im hiesigen Walhalla
verknüpft. Was mich noch diese Minute wundert, ist, daß der Examina

tor selbst mit tanzte, und er mus nicht nur zuviel getrunken gehabt
haben.


Über die verwelkten Kindheits Jahre weht auf uns ein Wolgeruch
herüber, der schwer zu erklären ist, wenn man auch 2erlei weis —
daß erstlich die KindesSinne nicht wie unsre die Eindrücke auf
nehmen sondern aufgreiffen, indes bei uns ieder Gegenstand sein
Petschaft auf erkaltetes und hartes Siegellak drükt — und daß
2tens diese neuen Sinne lauter neuen Objekten begegnen, die mit
allen Vortheilen des ersten Eindruks wirken. Denn es ist noch un
erklärlich, wie irgend eine Empfindung durch Wiederholung (da doch
die Seele keiner körperlichen Veränderung, Abspannung fähig ist)
von ihrer Stärke einzubüssen fähig ist: aufs Gehirn ists nicht zu
schieben, dem als Körper ieder wiederholte Eindruk ein neuer ist —
diese beiden Ursachen bringen auch unter der Kindheit, [dem] Früh
ling und dem Morgen eine Familienähnlichkeit — alle 3 verdoppeln
den Lebensgenus, das Gefühl unsres Seins und den Glanz eines ieden
Gegenstandes — wie umgekehrt der Herbst, das Alter und die Stunde
vor dem Betgehen uns mit Gedanken des ausgepresseten kahlen und
ewig um sich kreisenden Lebens drücken. — Der Gelehrte Fortius räth
iedem Gelehrten 6, 12 monatliche Veränderung der Städte an; und
er hat Recht: iede neue Lage (und wärs ein Stubenwechsel) ist stärkende
frische Luft; wir fahren und graben sonst unser Gleis und unsern Hol
weg so tief ein, daß wir enge drin stecken ohne Himmel und Erde zu
sehen. Seit vielen Jahren schrieb ich nicht soviel Ernsthaftes als im
heurigen. Ausser Ihnen [?] mus noch, da ich obendrein von Tag zu
Tag wieder mich zum 12ten J[ahre] zurükbegebe, in dem man am
weichsten, entweder das Machen eines Romans daran schuld sein oder
das Spielen desselben. Ich wil wünschen, daß ich mich bald kopulieren
lasse — damit ich weis wohin mit meinen Empfindungen und zweitens
meiner armen Frau wegen, die es iezt bei gegenwärtigem Briefsteller
am besten hätte. Wärs zu machen: so wäre iezt der rechte Zeitpunkt:
— ich wolte Verse und Pas machen lernen — ich liesse mich frisieren
und silhouettieren — meinen ganzen alten Adam zög’ ich bis auf die
kleinste Franze aus, besonders meine Quarrée Stiefel — ich nähme
mir vor, ieden Tag nur Eine Schönheit meiner Frau zu studieren und
am andern eine andre zu besehen — ich gienge mit ihr spazieren von
Sonnen Unter- bis Aufgang — die Philosophie und meine Warzen
thät’ ich sogleich weg: — so aber ists recht fatal und ich verpasse meine
besten Eheminuten.


11 Aug.

Die Geschichte Ihres Skept[izismus] ist meine. Im Heerrauchs
Jahr wölkte dieser Seelen Heerrauch meine so sehr ein, daß mir keine
Wissenschaft mehr schmekte und ein Buch mit scharfs[innigem] Unsin
las ich lieber als eines mit schlichtem Menschenverstand, weil ich blos
noch las, um meine Seele zu üben, nicht aber zu nähren. Zum Glük
wurd’ ich damals von der Wiz Manie besessen, die mich, um Gegen
stände etc. des Wizes zu haben, durch das neue Interesse zum Licht
wandte, das ich durch das Wiz Prisma aus Stralen in Farben ver
kehrte. In der Empfindung war ich gläubig; und blos den Schrift
stellern, die mich in iene oft versezten, verdank’ ich meine Trans
subst[anziazion]. Zum Unglük war dieser skeptische graue Staar auch
in den Augen meiner 2 todten Freunde und ihrer Freunde.

Ein Hauptgrund meines Skept[izismus] war der: „es giebt für
iedes Subjekt keine andre Wahrheit als die gefühlte. Die Säze,
bei denen ich das Gefühl ihrer Wahrheit habe, sind meine wahren
und es giebt kein andres Kriterium. Da aber dieses nämliche Gefühl
auch die Irthümer, die es wiederruft, einmal unterschrieb — da es
seine Aussprüche ändert nach Stunde und Alter und Zuständen und
Seelen und Ländern und Welttheilen: woher kan ich denn gewis wissen,
daß dieses chamäl[eontische] Gefühl morgen oder in 3 Jahren das
nicht zurüknehme, was es heute beschwört? Und blieb’ es auch
beständig: könt’ es nicht bei einem Irwahn beständig bleiben? Wer
steht mir für die Wahrheit dieses Gefühls als das Gefühl selbst? Denn
was [man] Gründe nent, ist nur eine verstekte Appellazion an dieses
Gefühl: weil einen Grund vorbringen heist zeigen, daß der zu begrün
dende Saz ein Theil, eine Folge etc. eines schon begründeten ist, und
der lezte dieser begründeten Säze mus sich allemal, wenn wir [nicht]
ewig vom Grund des Grundes zum Grund des Grundes des Grundes
etc. gewiesen werden sollen, auf blos gefühlte Wahrheit stüzen, weil
sonst die ganze Schluskette an nichts hienge.“ Daraus folgt aber auch
die Ungewisheit, ob ich existiere: denn dieses Existenz Postulat ist aufs
blosse Gefühl gebaut — Ich wil hoffen, daß ich existiere: ich wüste auch
nicht, was Sie an mir lobten, wenn ich gar nichts hätte, nicht einmal
Dasein. Indessen nehmen Sie mir, wenn Sie mir die Substanz geben, dafür wichtige Akzidenzien — wenigstens die Bescheidenheit, die ums
Leben kommen mus, wenn ich auch nur ⅓ Ihrer 3 Seiten lese oder
glaube. Da man allemal das Lob stärker und den Tadel schwächer giebt
als man es genommen sehen wil: so mus ich auf eine starke Ueber
treibung Ihres Lobes denken, damit nicht Ihre Bescheidenheit mit der
Uebertreibung zugleich das Wahre wegsubtrahiere. In der That Sie
solten wissen, daß Sie der gröste Linguist in den slavischen und viel
leicht südindischen Sprachen sind — Ihre Belesenheit in den actis
sanctorum
und Martyrologien ist Ihnen selbst bekant — und ich
wünschte, ich wäre kein kleinerer Fechtmeister und Talmudist als Sie.
Dafür besteh’ ich darauf, daß mirs Ihre Bescheidenheit unangefochten
lässet, wenn ich erstlich sie selbst hochachte und liebe — Ihre Kentnis
der Alten, die wie Weiber mit den Jahren Verehrer einbüssen — Ihr
punctum saliens unter der linken Brust, dem erst unser 2tes Leben
nach dem Tod den ganzen Menschen gar anbildet — Ihren gefälligen
und doch geraden Gang durch [das] närrische verwachsene stechende
Gebüsch des Umgangs [?] und der Welt [?] — Ihr feines Ehrgefühl —
— aber ich verleze Ihres und meines, wenn ich zu schreiben fortfahre,
was blos gedacht zu werden hinlänglich ist. — Ich unterliesse die
Abhandlung [?] gar, wenn mir nicht unsre Aehnlichkeit der Denkungs
art auch hier für Begegnung gutsagte — Meine Dividende von den
Mixturen ist alles, worunter H (spiritus asper) [steht], vermauerte
Einbauungen in den Text — Ich bin ohne weitere FinalFaxe etc. —
Da den Juden [der] Sabbat nicht zur Erbauung sondern zur Er
holung gegeben ist und Mich[aelis] alle Sabbatregeln aus dem End
zwek des Vergnügens ableitet — da die koptischen Christen noch iezt
[den Sabbat feiern:] so wollen wir auch koptische Christen diese
Woche sein, wenigstens von 8—11 Uhr. cura ut valeas et scribas.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K: Den 9 Aug. 90. Wernlein. i: Wahrheit 4,328×; s. auch 4,253, Fußnote. Vgl. Euphorion VII (1900), 303. B: IV. Abt., I, Nr. 115. 304,8 Objekten] aus Obiekten 25 ihn

303,13 ff. Wernlein hatte in sehr schmeichelhaften Worten versichert, wie dankbar er Richter dafür sei, ihn wieder zur Beschäftigung mit metaphysischen Fragen veranlaßt zu haben. 304, 3ff. Vgl. den Aufsatz „Warum sind keine frohen Erinnerungen so schön als die aus der Kindheit?“ (I. Abt., XVI, 76—81). 19f. Joach. Fortius Ringelbergius, „De ratione studii“ (1531); vgl. I. Abt., II, 170,19—21. 27f. Vgl. I. Abt., II, 37,6—8. 305, 4ff. Skeptizismus: vgl. 66, 36†; Heerrauchsjahr = 1783, vgl. 100, 28ff. 15 zwei tote Freunde: Oerthel (vgl. 131, 18—22) und Hermann. 28—33 Vgl. I. Abt., III, 339,4—8. 306, 20 Abhandlung: vielleicht „Es giebt keine eigennüzige Liebe usw.“ (II. Abt., III, 232ff.), die von Wernlein rezensiert wurde (a. a. O. 244ff.). 21—23 Mixturen: vgl. zu Nr. 118.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_335.html)